Gruseln auf den zweiten Blick
Arbeitsmarkt
Gruseln auf
den zweiten Blick
Von Anna Steiner
2023 war eines der besten Jahre auf dem Arbeitsmarkt. Und doch: Auf den zweiten Blick ist Gänsehaut angesagt.
Es gibt Nachrichten, die sind auf den ersten Blick gut und auf den zweiten Blick besser. Und dann gibt es Nachrichten vom Arbeitsmarkt. Dieser behaupte sich „gut“, erklärte die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles. 2023 sei eines der Jahre mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung gewesen. Die Beschäftigung legte zu und der Anstieg der Arbeitslosenquote fiel mit 0,1 Prozentpunkten nicht viel deutlicher aus als in anderen Dezembermonaten.
Ein zweiter Blick auf die Daten sorgt aber für Gruseln – und das nicht aufgrund der dunklen Jahreszeit. Denn auch mit Blick auf das Gesamtjahr ist die Zahl der Arbeitslosen gestiegen. Die Beschäftigung nimmt zwar zu, jedoch vor allem im Niedriglohn- und Teilzeitsektor. Zudem geht der Beschäftigungszuwachs zu 100% auf das Konto von Menschen mit ausländischem Pass. Selbst Berufsoptimistin Nahles erwartet eine „etwas schlechtere Entwicklung“.
Verfestigung der Arbeitslosigkeit
Grund sind gegenläufige Entwicklungen. Einerseits schwächelt die Konjunktur – und bremst mittelfristig auch den Arbeitsmarkt. Allerdings kaum durch eine stark steigende Arbeitslosigkeit, sondern durch verminderten Beschäftigungsaufbau. Denn statt ihre Mitarbeiter zu entlassen, halten Unternehmen so lange wie möglich an ihnen fest, um nicht Gefahr zu laufen, bei einer wieder anziehenden Konjunktur in einen Mangel an qualifiziertem Personal zu laufen. In jedem sechsten Beruf stellte die BA inzwischen einen Engpass fest. Problematisch ist dies wiederum für viele Arbeitslose. Experten sprechen inzwischen von einer „Verfestigung“. Für viele von ihnen wird es immer schwieriger, einen Job zu finden. 60% wollen zudem eine Helferstelle, doch von zehn offenen Stellen richten sich acht an Fachkräfte.
Der einzige Weg, um sowohl Langzeitarbeitslosigkeit als auch Fachkräftemangel zu bekämpfen, ist es, noch stärker auf Qualifizierung zu setzen. Diesen Appell richtet Nahles nicht zuletzt an die Ampel-Regierung in Berlin. Dieser Lösungsweg sorgt angesichts der jüngsten PISA-Ergebnisse der deutschen Schüler für den nächsten kalten Schauer. Jedes Jahr verlassen Zehntausende Schüler die Schule ohne Abschluss. Danach, auf dem Ausbildungsmarkt, wird ein seit Jahren bestehendes Ungleichgewicht zwischen zu wenigen Bewerbern auf zu viele Lehrstellen immer größer.
Statt ewig zu beschwichtigen, sollten die Verantwortlichen die Geschichte erzählen, wie sie ist: Es wird ungemütlich am Arbeitsmarkt – für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber. Nur wer die Probleme klar benennt, kann sich mit ihrer Lösung befassen.