Italien auf der Notfallstation
In Italien herrscht Katerstimmung. Noch vor Wochen hat ganz Europa ungläubig die hohen Wachstumsraten des Landes bewundert. Doch das war nur ein Strohfeuer, angefacht vor allem durch die umfangreichen europäischen Hilfen. Jetzt ist Italien schon wieder auf der Notfallstation. Bereits die Ankündigung einer vorsichtigen geldpolitischen Normalisierung hat die Finanzmärkte in Alarmstimmung versetzt und den Spread zwischen deutschen und italienischen Zehnjahresanleihen auf bis zu 250 Basispunkte steigen lassen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde ist sofort eingeknickt und hat Maßnahmen gegen „zu hohe“ Zinsabstände versprochen.
Italien braucht die europäischen Hilfen und die Unterstützung der Europäischen Zentralbank wie ein Junkie seine Drogen. Schon beim zartesten Entzug bricht Panik aus. Italien ist und bleibt das ewige Sorgenkind der EU – auch wenn das manchmal kurzzeitig vergessen wird.Denn das Land macht einfach seine Hausaufgaben nicht. Klar, dass die Finanzmärkte Risikoaufschläge verlangen, wenn ein Land mit mehr als 150 % des Bruttoinlandsprodukts verschuldet ist und selbst eine extrem lange Phase von Negativ- bzw. Nullzinsen nicht genutzt hat, um die Schulden abzubauen. Stattdessen wurden neue soziale Wohltaten eingeführt wie eine teuere Grundsicherung quasi ohne Gegenleistung, die zur Schwarzarbeit verführt und die sich das Land mit seiner niedrigen Produktivität nicht leisten kann. Auch die Rentenreform von 2011 wurde zurückgedreht und das Rentenalter herabgesetzt – angesichts der demografischen Situation eine ökonomische Dummheit.
Leider haben sich auch die großen Hoffnungen, die in Premierminister Mario Draghi gesetzt worden sind, nicht erfüllt. Er hat zwar die Corona-Pandemie in den Griff bekommen und dafür gesorgt, dass Italien fast 200 Mrd. Euro aus dem Europäischen Wiederaufbauprogramm erhält. Aber bei der Umsetzung der Reformen – Gegenleistung für die Hilfen – kommt der Regierungschef nur teilweise voran. Die seit Jahrzehnten überfällig Katasterreform ist erstmal stecken geblieben. Die Reform des Wettbewerbsrechts, etwa im Strommarkt oder bei den Strandkonzessionen, ist aufgeweicht oder aufgeschoben worden, obwohl Rom Brüssel hier schon Jahrzehnte hinhält. Und auch bei der dringend notwendigen Anhebung des Rentenalters zeigt sich der Premierminister als Zauderer. Draghi erweist sich als wesentlich weniger effizient als erwartet und versucht, die Konjunktur durch eine schier unübersehbare Vielfalt von Boni und Hilfen etwa zur Senkung der Energie- und Treibstoffpreise am Laufen zu halten. Doch das sind nur Strohfeuer, deren Effekt schnell verpufft. Sie kosten Milliarden, bringen das Land strukturell aber nicht voran. Draghis Hoffnung, durch hohe Wachstumsraten die Schulden reduzieren zu können, erweist sich immer mehr als Schimäre.
Warum, so fragt man sich, treibt das vor allem im Süden sonnenverwöhnte und teilweise windreiche Land den Ausbau der Wind- und Solarenergie nicht energischer voran? Unternehmen klagen über extrem lange Verfahren, auch weil die Bürokratie so langsam und ineffizient ist. Viele Experten haben genau deshalb auch Zweifel, dass Italien, ähnlich wie beim europäischen Strukturfonds, in der Lage sein wird, die Mittel aus dem Europäischen Aufbauprogramm auszugeben bzw. gut auszugeben. Es fehlt fachlich kompetentes Personal dafür. Vor allem im Süden. Kriminelle Organisationen wie Mafia und Camorra halten die Hand auf.
Die beispiellosen europäischen Hilfen bieten eine einmalige Chance für Italien, die nun verspielt wird. Denn die im Frühjahr 2023 stattfindenden Parlamentswahlen werfen ihre Schatten voraus. Die Regierung ist zerstrittener denn je, ob es um Reformen geht oder um Waffenlieferungen an die Ukraine. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass europafeindliche Kräfte der politischen Rechten, die sich eine Weile mit Kritik an Brüssel zurückgehalten hatten, nächstes Jahr die Regierung bilden werden. Dann sind neue Konflikte mit Europa programmiert.Italien ist ein Pulverfass, das die Sprengkraft hat, Europa auseinanderzureißen. Draghi hofft auf die Aufnahme weiterer, gemeinsamer europäischer Schulden. Gründe finden lassen sich immer, der ökologische Umbau etwa oder der Krieg. Er zieht an einem Strang mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der nach den Parlamentswahlen stark geschwächt ist. Viel zu lange haben die Europäer Geduld mit Rom gehabt und immer wieder Zugeständnisse gemacht. Der Preis ist hoch. Italien muss wohl dauerhaft alimentiert werden. Die Alternative wäre das Ende der EU in der jetzigen Form. (Börsen-Zeitung, 21.6.2022)