Italiens Premierministerin muss bei der Wahl von der Leyens Farbe bekennen
Giorgia Meloni und die rechtsnationalen Schmuddelkinder
Bei der Wahl der EU-Kommissionspräsidentin muss sich Italiens Premierministerin entscheiden, mit wem sie es hält.
Von Gerhard Bläske, Mailand
Es ist die Stunde der Wahrheit für Italiens Premierministerin Giorgia Meloni. Am 18. Juli steht im Europaparlament die Wahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten auf der Tagesordnung. Und aller Voraussicht nach wird Amtsinhaberin Ursula von der Leyen bestätigt – mit den Stimmen der Europäischen Volkspartei, der Sozialisten, der Liberalen – und womöglich der Grünen. Wie die Abgeordneten der Meloni-Partei Fratelli d’Italia abstimmen werden, ist noch unklar. Klar ist nur, dass ihr Mitte-Rechts-Regierungspartner Forza Italia die aktuelle Kommissionspräsidentin unterstützt. Der Rechtsaußen-Partner Lega von Matteo Salvini will dagegen zusammen mit dem französischen Rassemblement National (Le Pen) und anderen Parteien „von der Leyen und die islamfreundlichen Linken stoppen“.
Die Regierungschefs aus Deutschland, Frankreich, Spanien und Polen hatten sich schon vor Wochen auf die Besetzung der EU-Spitzenposten geeinigt – ohne Meloni einzubeziehen. Die Italienerin schäumte vor Wut und sprach von einem Kuhhandel der „Koalition der Verlierer“. Bei der Abstimmung der Regierungschefs stimmte sie gegen António Costa als EU-Repräsentanten und Kaja Kallas als Hohe Beauftragte, bei von der Leyen enthielt sie sich.
Meloni hoffte zu diesem Zeitpunkt, durch einen Wahlsieg des Rassemblement National bei der Parlamentswahl in Frankreich gestärkt zu werden und in Brüssel Zünglein an der Waage spielen zu können. Sie träumte davon, wie in Italien, wo sie trotz interner Differenzen mit ihren Regierungspartnern unangefochten mit komfortabler Mehrheit und wohl bis Ablauf der Legislaturperiode 2027 regiert, die Kräfteverhältnisse auch in Europa nach rechts verschieben und Europa „verändern“ zu können. Sie will auch in Europa eine Schlüsselrolle spielen.
Rechtsaußenparteien völlig zersplittert
Doch der Wind hat sich gedreht. Der Rassemblement hat seine Ziele nicht erreicht. Hinzu kommt: Die Rechtsaußenparteien sind völlig zersplittert. Sie gehören unterschiedlichen Bündnissen an und liegen etwa bei Themen wie dem Ukraine-Krieg weit auseinander. Die „Patrioten“ unter Führung Le Pens, zu denen auch Orbáns Fidesz und die Lega gehören, haben das rechtskonservative Bündnis ECR mit Melonis Fratelli d’Italia überholt.
Meloni muss nun entscheiden, ob sie bei den Schmuddelkindern bleibt, womit sie ins Abseits geriete, oder ob sie es mit den gemäßigteren Kräften hält. Dieser Nagelprobe ist sie bisher aus dem Weg gegangen. Beim G7-Gipfel im Juni zeigte sie sich als Gastgeberin zwar sehr diplomatisch. Auch im Hinblick auf die Ukraine steht sie fest auf der Seite der Nato. Dass sie durch Abkommen mit nordafrikanischen Staaten sowie mit Albanien, wo Italien zwei Flüchtlingslager einrichtet, für Entlastung in der Flüchtlingsfrage sorgt, kommt den Partnern entgegen – auch wenn sie das nicht laut sagen.
Doch schaut man sich ihre Politik genauer an, dann gibt es durchaus Grund zur Sorge. Sie lässt es durchgehen, dass Koalitionspartner Salvini unverblümt mit Russlands Präsident Wladimir Putin flirtet und sich gegen weitere Ukraine-Hilfen ausspricht. Ohnedies steht Italien bei aller bekundeten Solidarität mit der Ukraine ganz hinten bei den Hilfszahlungen und der militärischen Hilfe für das Land.
Dass sich Meloni nach außen so europafreundlich gibt, hat einen einfachen Grund: Sie braucht das Geld aus Brüssel. Italien ist mit insgesamt rund 220 Mrd. Euro der größte Nutznießer des Wiederaufbauprogramms „Next Generation“ und des EU-Programms Sure für den Arbeitsmarkt. Und Rom profitierte viele Jahre davon, dass die Europäische Zentralbank zur Stützung des Landes italienische Staatsanleihen von insgesamt 300 Mrd. Euro aufkaufte und Rom überdies mit ihrer Niedrigzinspolitik unter die Arme griff. Angesichts der gigantischen Verschuldung von rund 140% des Bruttoinlandsprodukts würde Italien ohne den Euro Rekordzinsen zahlen und wäre längst pleite.
Gedankt hat Meloni der EU die Nachsicht nicht. Rom kann das Geld aus „Next Generation“ und den Strukturfonds nicht ausgeben. Wirtschafts- und Finanzminister Giancarlo Giorgetti will deshalb eine Verlängerung der Fristen für die Ausgabe der Mittel. Aber was noch viel schlimmer ist: Rom wirft Brüssel auch noch Knüppel zwischen die Beine. Italien blockiert die Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und fordert Korrekturen. Alle anderen Länder haben längst unterschrieben. Auch bei der Verschärfung der Verpackungsvorschriften, schärferen Energievorgaben, dem Verbot von Benzinern und Dieselfahrzeugen ist sie konsequent auf Gegenkurs zu Brüssel.
Trotz europäischer Kritik wurde gerade der Tatbestand des Amtsmissbrauchs abgeschafft. Damit steht der Korruption auf lokaler Ebene Tür und Tor auf. Und Italien ignoriert seit vielen Jahren konsequent Aufforderungen der EU, Märkte zu öffnen: Eklatantestes Beispiel sind die Strandbäder. Seit fast 20 Jahren weigert sich Rom mit fadenscheinigen Begründungen, die Konzessionen neu auszuschreiben. Auf Kritik Brüssels stößt auch die geplante Autonomieregelung: Die EU kritisiert teure Doppelfunktionen, höhere Kosten und eine ungeklärte Finanzierung des Vorhabens. Die von Meloni geplante Stärkung der Position des Premierministers, der direkt vom Volk gewählt werden soll, stößt bei vielen Verfassungsrechtlern auf scharfe Ablehnung. Dies gilt umso mehr, als die führende Listenverbindung schon mit 35% der Stimmen die absolute Mehrheit im Parlament erhalten soll.
Autoritäre Tendenzen
Meloni zielt auf eine Zementierung ihrer Macht mit autoritären Tendenzen. Wirtschaftspolitisch setzt sie die Schuldenpolitik der Vorgänger fort, etwa mit Renten-Vorruhestandsregeln oder nicht gegenfinanzierten Steuersenkungen. Dass wegen des hohen Defizits von 7,4% im vergangenen Jahr und der steigenden Verschuldung ein Verfahren gegen Italien eingeleitet worden ist, lässt sie relativ kalt. Sie lehnt die mit ihrer Zustimmung beschlossene Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts ab. Meloni will, dass Ausgaben für die Rüstung oder die Energiewende bei der Berechnung ausgeklammert werden. Dafür brauche es neue, mit gemeinsamer europäischer Schuldenaufnahme finanzierte Programme.
Bei aller Geschmeidigkeit, die Meloni an den Tag legt, wird zunehmend deutlich, was sie will: Ein anderes Europa, das mit Euro-Bonds aus ihrer Sicht nötige Ausgaben finanziert – und ein Europa der Nationalstaaten, in dem Italien sich die Rosinen aus der EU herauspickt – ohne die damit verbundenen Verpflichtungen zu erfüllen. Da ist sie sich einig mit den „Schmuddelkindern“ Salvini, Orbán, Le Pen und offen faschistischen Teilen ihrer Parteijugend. Dabei ist sie klug genug, sich von radikalen Positionen offiziell zu distanzieren.
Meloni muss Brüssel entgegenkommen, wenn sie Italien Einfluss und einen wichtigen EU-Kommissar für Wettbewerb oder Wirtschaft, möglichst garniert mit Vizepräsidenten-Posten, sichern will. Wahrscheinlich ist, dass ihre Partei sich bei der Abstimmung enthält und dass sie für von der Leyen stimmt.