Autoindustrie

Klumpenrisiko China

Die deutschen Autohersteller können die Folgen des Ukraine-Krieges verdauen. Im Falle eines Taiwan-Schocks wäre dies für sie aber nicht mehr möglich.

Klumpenrisiko China

Wie naiv doch manche Politikstrategen waren! Wer geglaubt hatte, mit der Globalisierung nach dem Zerfall der Sowjetunion würden sich das auf demokratische Prinzipien beruhende Gesellschaftssystem des Westens und eine neue Friedensordnung unter US-Führung weltweit durchsetzen, irrte sich gewaltig. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine widerlegt endgültig die These, dass mit internationalem Handel ein Wandel in jenen Ländern eintritt, die autokratisch regiert werden.

Russlands Präsidialsystem ist unter Wladimir Putin zu einer auf Geheimdienste und dem Militär gestützten Diktatur verkommen, dessen Brutalität und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Bomben- und Raketenhagel auf ukrainische Städte und die Zivilbevölkerung abermals zu besichtigen ist. Die Besetzung der Krim sowie die Kriege in Syrien und in Tschetschenien liegen nicht so weit zurück, als dass diese aus dem kollektiven Gedächtnis der Weltgemeinschaft hätten verdrängt werden können.

Zwar wächst mit jedem Tag, an dem der Ukraine-Krieg weiter andauert, die Gefahr einer weltweiten Rezession und von Hungersnöten in armen Ländern – die Ukraine gehört zu den Kornkammern Europas –, die unmittelbaren Folgen der Invasion sind aber zum Beispiel für die deutschen Autohersteller verkraftbar. Der wichtigste Industriezweig der größten EU-Volkswirtschaft kann die kurzfristigen Bremseffekte infolge des eskalierten bewaffneten Konflikts gut verdauen, da nur ein Bruchteil seines Geschäfts auf Russland und die Ukraine entfällt. BMW, Mercedes-Benz und Volkswagen lieferten 2021 weniger als 2% ihrer insgesamt produzierten Fahrzeuge in beide Länder aus. Das Trio ist in der Lage, Unterbrechungen in der Fertigung wegen ausgefallener Lieferungen aus der Westukraine mit Beschaffungen aus anderen Regionen auszugleichen.

Kaum vorstellbar, dass Washington und Brüssel zur Tagesordnung im Verhältnis zu Russland zurückkehren, sollten die USA und die EU ihre Sanktionen gegen den Kreml nach einem Ende des Krieges aufheben. Die Beziehungen sind zerrüttet, solange Putin an der Macht bleibt. Das dürfte auch auf die Wirtschaft ausstrahlen. Es werden Jahre vergehen, bis der deutsche Außenhandel im Allgemeinen und die Autobauer im Besonderen im Warenaustausch mit Russland wieder das Niveau vor Beginn des Überfalls auf die Ukraine erreichen – wenn überhaupt.

Derweil beobachtet Peking ganz genau, wie der Westen auf Russlands imperialen Expansionsdrang reagiert. Sollte Putin in der Ukraine obsiegen, dürfte das für das kommunistische Regime der zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde durchaus als Blaupause dafür dienen, Taiwan eines Tages anzugreifen, wie Experten befürchten. Kann es sich der Westen dann ebenfalls leisten, wie im Fall von Russland ein Embargo gleichen Ausmaßes gegen China zu verhängen? Die Antwort lautet: nein. Der wirtschaftliche Schaden wäre zu groß, da China für den Welthandel systemrelevant ist.

Das verdeutlicht das Beispiel Autoindustrie: In einem solchen Szenario würde mehr als ein Drittel des Geschäfts für die deutschen Autohersteller über Nacht wegbrechen. Für die drei Dax-Konzerne ist das bevölkerungsreichste Land der Erde der größte Einzelmarkt. China machte im vorigen Jahr 34% des weltweiten Pkw-Absatzes von BMW aus. Bei Mercedes-Benz waren es mehr als 36%, beim Wolfsburger Mehrmarkenkonzern sogar über 37%. Das zeigt, wie abhängig ihre Geschäftsmodelle von der Entwicklung in China sind. Ein Taiwan-Schock hätte für sie ein so gewaltiges Ausmaß, dass sogar ihre Existenz auf dem Spiel stände. Die Wirkung für die deutsche Wirtschaft wäre verheerend. Aufgrund dieser Gefahren würde Berlin vor einem Boykott zurückschrecken. Die Einbußen im Wohlstand wären unkalkulierbar.

Zur Beruhigung könnte mancher behaupten, dass das ins Reich der Fantasien gehört. Seit dem Ukraine-Krieg, mit dem Russland eine rote Linie überschritten hat, ist aber alles denkbar. Die China-Aktivitäten zeigen, wie verwundbar Deutschlands Vorzeigebranche geworden ist. Dramatische Verwerfungen in Ostasien könnten BMW, Mercedes-Benz und VW im Rahmen ihrer Diversifizierungsstrategien nicht abfedern. China ist für sie zu einem Klumpenrisiko mutiert. Dennoch lautet für sie in Bezug auf die asiatische Großmacht weiterhin: Business as usual. Das gilt auch für die gesamte westliche Wertegemeinschaft. Die Vorteile im Handel mit China überwiegen – jedenfalls solange das Land sich beim Überschreiten roter Linien an Russland kein Beispiel nimmt. (Börsen-Zeitung, 24.3.2022)

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