LeitartikelGewerkschaften

Kunden in Geiselhaft

Die GdL zelebriert ab Donnerstagabend ihren nächsten Warnstreik. Die Auswirkungen von Streiks in Infrastrukturbetrieben und öffentlichen Unternehmen müssen vom Gesetzgeber eingedämmt werden.

Kunden in Geiselhaft

Tarifkonflikte

Kunden in Geiselhaft

Die Auswirkungen von Streiks in Infrastrukturbetrieben und öffentlichen Unternehmen müssen vom Gesetzgeber eingedämmt werden.

Von Stephan Lorz

Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will.“ Wohl auf keine Gewerkschaft passt das Kampflied der Arbeiter von 1863 so gut wie auf die Gewerkschaft der Lokführer, GdL. An diesem Donnerstag und Freitag zelebriert ihr Vorsitzender Claus Weselsky schon wieder einen Warnstreik. Wobei der Begriff „Warnstreik“ kein Symbolakt ist, sondern mit der angekündigten Dauer von 24 Stunden bereits Millionen Menschen ihrer Mobilität beraubt und die Produktion im ganzen Land ausbremst. Dass es Weselsky nicht darum geht, eine Verhandlungslösung anzustreben, sondern er darin eine Machtprobe sieht, zeigt schon der Zeitablauf: Bereits kurz nach Beginn der Verhandlungen erklärt er sie als "gescheitert", wird eine Urabstimmung gestartet und der nächste Warnstreik angekündigt. Millionen Kunden der Bahn werden dabei in Geiselhaft genommen für die Anliegen einer kleinen Gewerkschaft von knapp 10.000 Mitgliedern. Und warum? Einfach, weil die GdL die Blockade des Landes ohne großes eigenes Risiko durchsetzen kann. Denn der Arbeitgeber, die Bahn, wird zwar Einbußen erleiden, doch der Staat fängt das wieder auf. Schließlich ist der frühere Staatsbetrieb quasi Monopolist auf dieser Infrastruktur. Und um ihre Jobs müssen sich die GdLer auch nicht sorgen, weil die Bahn in der Klimastrategie des Bundes eine zentrale Rolle spielt.

Dass angesichts der jüngsten Teuerungswelle und der damit gesunkenen Reallöhne Gewerkschaften mit mehr Druck in die Tarifauseinandersetzungen gehen als in den Runden zuvor, ist nachvollziehbar. Schließlich geben sich auch die Arbeitgeber in diesen Zeiten der Kostenwellen besonders zugeknöpft. 2023 gab es bereits so viele Streiks, dass man schon in die 90er Jahre zurückblicken muss, um eine vergleichbare Intensität zu finden. Aber letztendlich müssen auch die Unternehmen akzeptieren, dass sich der Wind gedreht hat von einem „Arbeitgebermarkt“, in dem man sich die Mitarbeiter aussuchen kann, zu einem „Arbeitnehmermarkt“ mit veränderten Vorzeichen. Der Fachkräftemangel ist nur eine Ausprägung. Viele zweistellige Tariferhöhungen sind bereits unter Dach und Fach.

Kein eigenes wirtschaftliches Risiko

Aber es ist ein gravierender Unterschied, ob die Streikenden mit ihrer Arbeitsniederlegung auch ein eigenes Risiko tragen oder eben nicht. Ist das der Fall, wirkt sich das kalmierend auf die Tarifgespräche aus, weil man ja den eigenen Arbeitsplatz nicht gefährden will. Das ist in den allermeisten Staatsbetrieben und bundesweiten oder regionalen Infrastrukturmonopolen aber nicht der Fall: Sie sind Quasi-Monopole und werden von der öffentlichen Hand geschützt. Daher ist es ein Unterschied, ob etwa Metallbetriebe bestreikt werden und bei zu langen Produktionsstillständen Jobs wegfallen, weil die Kunden zur ausländischen Konkurrenz abwandern oder die gesamte öffentliche Gesundheitsversorgung bzw. ein ganzes Schienennetz lahmgelegt werden, wo es keine Konkurrenz und Wechselmöglichkeiten gibt. Daher stellt sich schon die Frage, ob der Gesetzgeber sich dieses Schauspiel weiter gefallen lassen sollte?

Mit dem Tarifeinheitsgesetz wollte Berlin die Gewerkschaftskonkurrenz in Betrieben niederhalten, was aber nur teilweise gelungen ist, wie man an den Streiks von Lokführern, Piloten, Ärzten usw. sieht. Allerdings haben die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber die Befugnis erteilt, für einen Ausgleich zwischen den Interessen aller Arbeitnehmer zu sorgen. Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Verbot, das Gemeinwohl mit Arbeitskämpfen zu untergraben, gibt es bereits Orientierungspunkte. Und 1991 hatte Karlsruhe geurteilt, dass Einschränkungen des grundgesetzlich geschützten Streikrechts möglich sind, wenn Grundrechte von Dritten und andere Güter von Verfassungsrang tangiert werden.

Die Ärzte etwa nehmen darauf durchaus Rücksicht, was bei den Lokführern, die ihre Minigewerkschaft ausbauen wollen, eher nicht der Fall ist. Hier geht es schlicht um die Anwerbung zusätzlicher Mitglieder – und die Abwerbung von Mitgliedern der mit 180.000 Personen weitaus größeren Bahngewerkschaft EVG, um das Tarifeinheitsgesetz zu unterlaufen. Der auf den Warnstreik angedrohte GdL-Großstreik Anfang 2024 wird zeigen, ob der Gesetzgeber handeln muss.

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