Mit der Verfassung steht Chiles Zukunft auf dem Spiel
Von Andreas Fink, Buenos Aires
Wenn rund 15 Millionen Chilenen am Sonntag über eine neue Verfassung abstimmen, steht eine Menge auf dem Spiel. Mit ihrem Votum werden sie auch über die Attraktivität des Landes für Investoren und über die Bedeutung des Landes für die globale Energiewende entscheiden. Denn Chile ist mit seinem Reichtum an Kupfer, Lithium, Sonne und Wind ein Schlüsselstaat. Investoren werden wohl nur neuen Mut schöpfen, sollte sich die Bevölkerung gegen den Verfassungsentwurf stemmen.
Seit dem massiven und gewaltsamem Aufstand von 2019, der das Machtgleichgewicht in Chile auf den Kopf stellte, sucht das Land nach einem neuen Grundgesetz anstelle der Verfassung aus der Militärdiktatur. Diese ist zwar seit der Rückkehr zur Demokratie mehrfach umgeschrieben worden, behielt aber die Zurückhaltung des Staates in zentralen Bereichen wie Bildung, Gesundheitspflege und Altersversorgung bei. Nach dem Willen der Regierung soll sich das ändern – und dies könnte Investoren auf Dauer verschrecken.
Wegen nachlassender Investitionen leidet bereits die Konjunktur. Die Wirtschaftsleistung lässt seit dem dritten Quartal 2021 stetig nach, während die Inflation immer weiter zunimmt. Im Juli lag sie über 13% (siehe Grafik). Das trifft weite Teile der Bevölkerung, vor allem in den Bereichen Lebensmittel und Energie. Die Inflation ist nach Einschätzung vieler Experten zu zwei Dritteln hausgemacht. Vor allem die Stimulationsmaßnahmen im Wahljahr 2021 haben die Geldmenge vergrößert, was sich doppelt negativ auswirkte, als weltweit die Energie knapp und teuer wurde.
Auslöser Massenproteste
Anfang Juli hat der 36 Jahre junge Präsident Gabriel Boric dem Parlament einen Vorschlag für eine große Steuerreform präsentiert, die dem Staat zusätzliche Einnahmen einbringen soll, die etwa 4% des Bruttoinlandsproduktes entsprechen. Damit soll der soziale Umbau finanziert werden. Zwar ist der Wohlstand in Chile seit 30 Jahren gestiegen. Doch ein Großteil der Bevölkerung empfindet die Verteilung des Wohlstands als ungerecht. Es gab Proteste. Die Aufstände ebbten erst ab, nachdem der konservative Präsident Sebastián Piñera im Dezember 2019 der Ausarbeitung einer neuen Verfassung in zwei Schritten zugestimmt hatte. 80% der Bürger stimmten 2020 dafür, eine neue Verfassung zu formulieren. Und 2021 wählte das Volk die Mitglieder jener Versammlung, die das neue Grundgesetz ausarbeiten sollte. Dieser Konvent präsentierte seinen Vorschlag im Juli. Nun wird abgestimmt.
Umfragen deuten darauf hin, dass der Verfassungsentwurf scheitern könnte. Mit einer Annahme rechnen die wenigsten. Präsident Boric muss nun versuchen, die unentschiedenen Wähler von dem Projekt zu überzeugen. Aber seine Regierung muss auch für den Fall vorbauen, dass der Antrag scheitern könnte.
Agustín Squella, ein linksliberal orientierter Rechtsanwalt, der zu den 154 Mitgliedern des Verfassungskonvents gehörte, verteidigt das Vorhaben. Der Verfassungsentwurf sehe einen „demokratischen Staat mit repräsentativer Demokratie vor, der durch Formen direkter Demokratie verstärkt wird, wie sie das Land noch nie gekannt hat; einen Sozialstaat, der auf Rechtsstaatlichkeit beruht; soziale Rechte, Schutz einer Natur, zu der wir gehören; Dezentralisierung des Landes“. Kritiker bemängeln die enorme Anzahl von 388 Paragrafen, sprechen von Überregulierung und Kleinteiligkeit. Besonders umstritten sind Punkte wie die Schaffung paralleler Justizsysteme für Indigene oder die Abschaffung des Senats.
Seit sich ein Nein am Sonntag abzeichnet, sucht die Politik nach Alternativen. Dabei zeigt sich, dass kompromisslose Haltungen nur noch bei den Extremen des politischen Spektrums vorherrschen. Fast zeitgleich präsentierten sowohl rechte Oppositionsparteien als auch die linke Regierungskoalition Vorschläge für ein künftiges Grundgesetz, unabhängig vom Ausgang der Abstimmung am Sonntag. Diese kompromissbereiten Sektoren repräsentieren mindestens drei Viertel des parlamentarischen Spektrums, darum glauben wenige, dass ein Nein am Sonntag das Land in eine neue existenzielle Krise stürzen wird.
Suche nach Alternativen
Ab Montag wird Chile wohl eine parlamentarische Fortsetzung des Verfassungsprozesses bekommen, wohl doch auf Basis der alten Pinochet-Verfassung, deren Reform lange am konservativen Lager gescheitert war. Doch nach einem Generationswechsel hat sich auch hier die Einsicht durchgesetzt, dass eine Verbreiterung des Wohlstandes wie etwa in Australien oder Neuseeland nur gelingen kann, wenn der Staat den Mittelschichten bei deren Grundbedürfnissen mehr hilft als bislang. In einer gemeinsamen Erklärung haben die Rechtsparteien ihre Bereitschaft zu stärkerer Einbindung des Staates in Gesundheitspflege, Bildung und Altersversorgung und auch die Bereitschaft erklärt, die dafür anfallenden Kosten durch höhere Steuern für die Wohlhabenden zu finanzieren.
Nur wenn es dem Land gelingt, in seiner breiten Mitte ein weithin akzeptiertes Grundregelwerk zu entwerfen, hat es exzellente Karten für die Zukunft.