Objekte der Schönheit
Für viele Pendler hat das Leben in der britischen Metropole in den vergangenen Monaten neue Ungewissheiten gebracht. Man konnte sich zwar noch nie darauf verlassen, dass der Zug, den man nehmen wollte, wirklich fährt. Doch will die linke Eisenbahnergewerkschaft RMT offenbar so lange mit Streiks für Chaos im öffentlichen Nahverkehr sorgen, bis die verhassten Tories in Westminster das Handtuch werfen. Dabei haben die meisten derjenigen, die auf U-Bahn oder Zug angewiesen sind, mit der Regierung nicht viel am Hut. Donnerstag war wieder so ein Tag, an dem in London nicht mehr viel ging. Für die Angehörigen der Laptop-Klasse kein Problem. Sie arbeiteten einfach von zu Hause aus.
Für Menschen, die nicht virtuell arbeiten können, bot das Durcheinander die Gelegenheit, einen Blick auf die neue Weihnachtskollektion zu werfen. Nein, nicht bei Barbour oder Burberry, sondern dort, wo sich berufstätige Hauptstadtbewohner ihr Lunch holen: Kaffeehausketten wie Caffè Nero, Costa Coffee und Pret A Manger haben bereits festliche Sandwiches im Regal, auch die Drogeriemarktkette Boots und die Supermärkte warten mit solchen Angeboten auf. Zumindest darauf kann man sich verlassen. Natürlich sind Bestseller wie Brie & Cranberry, Truthahn samt Füllung oder Räucherlachs auch in diesem Jahr wieder zwischen den Brotscheiben zu finden. Längst handelt es sich dabei nicht mehr nur um den traditionell pappigen Toast. Sauerteig ist nach wie vor en vogue, Körnerbrot und auch Baguettes sind gefragt. Zu den neuen Angeboten in diesem Jahr gehört der Wrap „Bauble & Squeak“ von Leon. Der Name lehnt sich an Bubble & Squeak an, ein traditionelles Gericht, für das Reste vorangegangener Mahlzeiten zusammen angebraten werden. Der Wrap von Leon enthält einen Gemüsepuffer, Rotkohl und Spinat und kommt mit Röstzwiebeln und Salbeimayonnaise. Redakteure des Gratisblatts „Evening Standard“, das sich angeblich um Boris Johnson bemühte, nachdem George Osborne eine Weile die Geschäfte führte, haben bereits umfangreiche Sandwich-Tests durchgeführt. Zum Gewinner kürten sie das Christmas Turkey Sandwich von Paul’s, „ein Objekt der Schönheit“, das für schlappe 5,15 Pfund zu haben ist. Auch die vegetarische Version für 4,75 Pfund, die statt Fleischersatz aus dem Labor Kastanien enthält, erfreute die Redaktion. Teurer bedeutete nicht besser. Das „Brie and Cran-merry Focaccia“ von Starbucks für 4,89 Pfund schnitt in der Wertung schlechter ab als das Brie & Cranberry Sandwich von Boots für 2,75 Pfund. Noch günstiger wird es bei Aldi. Dort schlägt das Truthahn-Sandwich mit 1,99 Pfund zu Buche, der Truthahn-Wrap mit 2,19 Pfund.
Aber viele Briten drehen noch nicht jeden Penny zwei Mal um, wenn sie draußen unterwegs sind. Wer mit Kollegen in die Pause geht, will nicht so aussehen, als ob er sparen muss. Doch zu Hause erlebt das Industriebrot von Großbäckereien wie Kingsmill ein Comeback. War es während der Pandemie noch angesagt, selbst den Backofen anzuwerfen und mit den Nachbarn darüber fachsimpeln zu können, wie man Sauerteig züchtet, stehen inzwischen die Kosten im Vordergrund. Ein 800g schweres Weißbrot von Hovis kostet trotz aller Probleme der Ukraine beim Export ihres Getreides bei Tesco, der größten britischen Supermarktkette, gerade einmal 1,45 Pfund. Das lässt sich in Eigenarbeit nicht billiger darstellen, zumal die Energiekosten der privaten Haushalte auch ohne extensive Backtätigkeit ordentlich gestiegen sind. „Wir haben alle Zahnfleischbluten vom Sauerteig und brauchen etwas weicheres“, zitiert der „Telegraph“ Richard Bainbridge, den Besitzer des Restaurants Benedicts in Norwich. Es mag Jamie Oliver zur Weißglut bringen, aber Weißbrot ist Comfort Food. Es ist das Brot, das Briten aus ihrer Kindheit kennen. Es bietet ein Gefühl des Aufgehobenseins, wenn einem die Zukunft Sorgen macht. Kein Wunder, dass der Absatz dem Nobelsupermarkt Waitrose zufolge binnen eines Jahres um 17 % zugenommen hat. Zu den gefragtesten Haushaltsgeräten gehörten übrigens der Kontaktgrill zum Überbacken von Toasts und die Fritteuse, die ebenfalls Comfort Food produziert – vom herausgebackenen Hühnchenteil bis zum frittierten Schokoriegel.