Regelwerk Solvency II wird verfeinert
Feinschliff an den Risikoregeln für Versicherer
Das Rahmenwerk Solvency II wird nach einer mehrjährigen Überprüfungsphase voraussichtlich 2026 in Kraft treten. Die deutschen Versicherer zeigen sich mit den Ergebnissen insgesamt zufrieden.
Von Thomas List, Frankfurt
Von Thomas List, Frankfurt
Das seit Anfang 2016 vollständige Aufsichtssystem Solvency II hat sich in der europäischen Versicherungswirtschaft insgesamt bewährt. Gleichwohl hat der Gesetzgeber von Anfang an Überprüfungen, sogenannte Reviews, eingeplant. Die Reformvorschläge von EU-Kommission, EU-Rat und EU-Parlament wurden in sogenannten Trilog-Verhandlungen zusammengeführt und am 25. Januar 2024 veröffentlicht (2021/0295 COD).
Abstimmung bis Juni 2024
Das EU-Parlament dürfte dabei noch in dieser Legislaturperiode zustimmen, also vor den Europawahlen im Juni 2024. Anschließend müssen die Änderungen der Richtlinie 2009/138/EG noch in nationales Recht umgesetzt werden. Daher dürfte die angepasste Solvency-II-Richtlinie frühestens 2026 in Kraft treten.
Die Versicherungsbranche begrüßt das Regelwerk im Grundsatz: Der deutsche Versicherungsverband GDV spricht von einem „zukunftstauglichen und ausbalancierten Kompromiss“. Allerdings steckt die Richtlinie nur den Rahmen ab. Die europäischen Behörden legen dann die Details fest („Ebene 2“) und bestimmen weitere technische Standards. Für diese Anpassungen gibt es noch keinen konkreten Zeitplan. Mit ersten Beratungen ist im Laufe dieses Jahres zu rechnen.
Deutschland stark betroffen
Einer der wichtigsten Punkte für die deutsche Assekuranz sind die Regeln zu langfristigen Garantien, da hier jahrzehntelange Verpflichtungen in der Lebensversicherung und der privaten Rentenversicherung eine im europäischen Vergleich besonders große Rolle spielen. Konkret geht es um die sogenannte Extrapolation der risikofreien Zinsstrukturkurve, die Volatilitätsanpassung und die Übergangsvorgaben für die versicherungstechnischen Rückstellungen.
Mit der Extrapolation der risikofreien Zinsstrukturkurve können Rückstellungen für Versicherungsverträge gebildet werden, deren Laufzeiten weiter in die Zukunft reichen als zuverlässige Kapitalmarktinformationen über risikofreie Zinsen. Der vorliegende Vorschlag eines neuen Extrapolationsverfahrens soll die Marktkonsistenz verbessern. Die Regeln sollen insbesondere niedrige Zinsen besser abbilden. Die Versicherer sollen das neue Verfahren schrittweise bis 2032 einführen (Phasing-in-Übergangsphase), müssen aber dessen Auswirkungen auch ohne die Übergangsregeln darlegen. Diese müssen bei der Aufsicht beantragt und von ihr genehmigt werden.
Volatilität verringern
Die Volatilitätsanpassung (VA) der risikofreien Zinsstrukturkurve soll so geändert werden, dass langfristige Aussichten besser berücksichtigt werden. Ziel ist es, die kurzfristige Volatilität der Solvency-II-Ergebnisse zu verringern. Konkret geht es um die verstärkte Berücksichtigung von Credit-Spreads und einen optionalen „Quality-Overshooting“-Faktor.
Aktienanlage vereinfacht
Erleichterungen sind bei den Schockszenarien für langfristige Aktienanlagen vorgesehen. Die Einstufung als „langfristig“ wird vereinfacht. So wird der Anwendungsbereich erweitert. Dies ermöglicht die Verringerung des Schocks mit einem Risikofaktor von 22% statt wie bisher 39% oder 49%.
Bei den versicherungstechnischen Rückstellungen soll die Risikomarge anders berechnet werden. Der von 6% auf 4,75% abgesenkte Kapitalkostensatz verringert die Risikomarge unmittelbar und führt damit zu höheren Solvenzquoten. Auf „Ebene 2“ dürften weitere Anpassungen der Berechnungsvorschrift folgen. Damit würden sich bei langfristigen Verbindlichkeiten die Solvency-II-Ergebnisse verbessern.
Bei der Standardformel zur Berechnung der Solvabilitätskapitalanforderungen (also die aufsichtsrechtlich geforderten Eigenmittel) wird ein anhaltendes Zinsrückgangszenario besser berücksichtigt. Dadurch soll die bisherige Unterschätzung des Zinsrisikos in einem Niedrigzinsumfeld abgestellt werden. Auch hier wird die neue Methodik über fünf Jahre schrittweise eingeführt (Phasing-in).
Neue Aspekte bei ORSA
In der Unternehmensberichterstattung sind Erleichterungen für Versicherer mit niedrigem Risikoprofil vorgesehen. Dabei geht es um Ausnahmen von und Beschränkungen der Berichterstattung. Außerdem werden Fristen verlängert und Inhalte gestrafft. Beim Own Risk and Solvency Assessment (ORSA) kommen allerdings neue Aspekte dazu, etwa Nachhaltigkeits- und Liquiditätsrisiken sowie makroökonomische Risiken. Kleine und nichtkomplexe Unternehmen können unter bestimmten Bedingungen alle zwei Jahre statt jährlich die ORSA-Bewertung durchführen.
Auf besondere Gegenliebe beim GDV stößt die Aufspaltung des Solvency and Financial Condition Report (SFCR) in einen kurzen Bericht für die Versicherten und einen ausführlicheren für die Fachöffentlichkeit. Hintergrund ist, dass der SFCR in seiner bisherigen, umfangreichen Form bei den Versicherern kaum nachgefragt wird. Die R+V Versicherung spricht von Abrufen auf der eigenen Homepage im jährlich zweistelligen Bereich.
Kaum Auswirkungen
Nur geringe Auswirkungen auf deutsche Versicherer wird nach Verbandsangaben die Anhebung der Schwellenwerte für kleinere Versicherer von 5 auf 15 Mill. Euro Bruttobeitragseinnahmen haben. Im Rahmen des Proportionalitätsprinzips soll der Verwaltungsaufwand für sehr kleine und nicht komplexe Versicherer vermindert werden. So wäre zum Beispiel der Bericht für die Aufsicht (RSR) nur alle drei oder sogar nur alle fünf Jahre zu erstellen.
Neu sind makroprudenzielle Instrumente und Maßnahmen zum Liquiditätsrisikomanagement und zur Behebung von Liquiditätsengpässen. Die Branche stuft diese Vorgaben als unnötig ein. Die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA wird dazu technische Standards entwickeln. Nach Meinung der Beratungsgesellschaft Deloitte könnte dies zu einem erhöhten Berichtsaufwand führen.
Green Deal spielt rein
Im Rahmen des Green Deals müssen Nachhaltigkeitsrisiken zukünftig kurz-, mittel- und langfristig beurteilt werden. Die Aufsicht prüft entsprechende Strategien und Verfahren. Diese Risiken müssen vollständig im Risikomanagement abgebildet werden. Auch Geschlechtergerechtigkeit ist ein Thema: Versicherer müssen eine Strategie zur Förderung der Diversität in ihren Verwaltungs-, Management- und Aufsichtsorganen verfolgen.