Rom arbeitet an Renaissance der Atomkraft
Im Blickfeld
Rom träumt von einer Renaissance der Atomkraft
Italiens Regierung bereitet einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Unternehmen wie Newcleo arbeiten an Mini-Reaktoren.
Von Gerhard Bläske, Mailand
bl Mailand
Das letzte italienische Atomkraftwerk hat seinen Betrieb vor mehr als 30 Jahren eingestellt. Doch geopolitische Spannungen wie der Ukraine-Krieg haben deutlich gemacht, wie verwundbar die Energieversorgung ist. Die hohen Energiepreise sind zudem ein entscheidender Wettbewerbsnachteil der italienischen Industrie gegenüber Spanien und Frankreich. Die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni plant deshalb den Wiedereinstieg in die Atomenergie. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll in den nächsten Wochen vorgelegt werden. Dass Italien nun vorangeht, liegt auch daran, dass mehrere aussichtsreiche Gründungen und Industriekooperationen hier zu Hause sind.
Nach zwei Referenden 1987 und 2011 wurden die vier bestehenden Anlagen zwar abgeschaltet beziehungsweise nicht fertiggestellt. Doch es gibt nach wie vor eine nennenswerte Nuklearbranche mit etwa 600 Unternehmen, die auf einen Umsatz von 4 Mrd. Euro kommen. Bisher waren sie vor allem für Projekte im Ausland tätig.
Mini-Reaktoren im Blick
Das 2021 von dem Physiker und Unternehmer Stefano Buono gegründete italienische Start-up Newcleo will in weniger als zehn Jahren nukleare Mini-Reaktoren in Betrieb nehmen. Elisabeth Rizzotti, Chief Operating Officer und Mitgründerin des Unternehmens, erklärt. „Wir wollen sichere, nachhaltige und preislich wettbewerbsfähige Energie produzieren.“ Die Nuklearphysikerin hat lange in der Finanzindustrie gearbeitet. In einem edlen Palazzo im Zentrum von Turin arbeiten etwa 200 meist junge Leute an Simulationen, Studien zur Sicherheit und zum Design für einen ersten nichtnuklearen Prototyp, der 2026 im stillgelegten Atomreaktor Brasimone südlich von Bologna in Betrieb gehen soll.
Die Kühlung der Mini-Reaktoren, die etwa die Fläche einer Fabrikhalle einnehmen sollen, erfolgt über flüssiges Blei. Newcleo will 2030 in Frankreich mit der Herstellung eines eigenen nuklearen Brennstoffs aus wiederaufbereiteten abgebrannten Kernbrennstoffen (Mox) bestehender Atomkraftwerke beginnen. Laut Buono können die Abfälle 200- bis 300-mal recycelt werden. Was am Ende übrig bleibe, könne größtenteils in der Nuklearmedizin oder für Batterien eingesetzt werden: „Wir machen das, wovon Einstein geträumt hat: Materie in Energie umwandeln.“ Das sei echte Kreislaufwirtschaft.
Das Start-up mit 900 Mitarbeitern in Turin hat jüngst den Firmensitz nach Paris verlegt und ist auch in London, Belgien, der Schweiz und der Slowakei präsent. Es hat bisher 537 Mill. Euro bei Investoren eingesammelt. Investiert ist etwa die Familienholding Exor der früheren Fiat-Eigner Elkann-Agnelli. Insgesamt werden laut Rizzotti bis 2030 weitere 3 Mrd. Euro für die Weiterentwicklung benötigt. Angeblich denkt die staatliche italienische Förderbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP) darüber nach, mit bis zu 200 Mill. Euro einzusteigen.
Lizenz in Paris beantragt
Bei den französischen Behörden hat Newcleo eine Lizenzierung beantragt. In Frankreich, wo es eine große Nuklearwirtschaft gibt, will Newcleo bis 2031 den Prototyp eines nuklearen Reaktors bauen. „Wenn alles gut geht“ soll 2033 der erste Reaktor folgen, der dann in Serie produziert wird. Das halten Experten etwa des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) für sehr optimistisch. Rizzotti veranschlagt Bauzeiten von zwei bis drei Jahren. Die Reaktoren seien leicht herstellbar und transportierbar, die Risiken gering und gut kontrollierbar. Die Installation eines Nuklearreaktors mit 200 Megawatt soll nur rund 800 Mill. Euro kosten, der Strompreis soll nach den Vorstellungen des Unternehmens bei 60 Euro je Megawattstunde liegen. Doch enorme Verspätungen und Kostenüberschreitungen wie bei den beiden EPR-Reaktoren der dritten Generation von Atomkraftwerken in Finnland und Nordfrankreich sind notorisch.
Newcleo ist im Oktober von der EU als eines von neun Projekten im Rahmen der European Industrial Alliance on SMRs (Small Modular Reactors) ausgewählt worden. Laut EU geht es darum, im Rahmen eines strategischen Plans bis in die frühen 30er Jahre die Entwicklung und Produktion innovativer, sicherer und effizienter Mini-Reaktor-Projekte zu fördern, Nukleartechnologien in industrielle Anwendungen zu integrieren und sie für Investoren attraktiv zu machen. Die Mini-Reaktoren könnten einen wichtigen Beitrag zur Dekarbonisierung leisten. Doch es gibt noch technische Probleme.
Mehrere Projekte im Gang
Auch der Energiekonzern Edison und dessen französische Mutter EDF sowie der Mineralölkonzern Eni arbeiten an Projekten. Die EU hat ein weiteres italienisches Projekt von Ansaldo und Enea in ihr Förderprogramm aufgenommen. Da geht es ebenfalls um ein bleigekühltes Konzept. Daraus und zusammen mit anderen Projekten können aus Sicht von Beobachtern Synergien entstehen – auch mit Newcleo. Enel, der Mineralölkonzern Eni und Ansaldo Nucleare planen ebenfalls die Gründung einer Gesellschaft zur Erforschung diverser Optionen für Mini-Reaktoren.
Enel-CEO Flavio Cattaneo rechnet mit zehn bis 15 Jahren, bis Mini-Reaktoren laufen. Aber ein neues Referendum könnte der Atomkraft-Renaissance einen Riegel vorschieben. Nach Ansicht von Michele Perotti, Direktor des Centro Studi sull’Efficienza Energetica (CESEF), das sich mit Energieeffizienz befasst, ist nicht klar, „was uns in den nächsten Monaten und Jahren erwartet“. Es gebe zwar Interesse und auch Kompetenzen seien vorhanden. Damit die Debatte aber nicht ein reines Strohfeuer werde, „muss genau ermittelt werden, welche Rolle die Atomenergie in einem System spielen könnte, das in hohem Maße auf erneuerbare Energieträger setzt, und welcher Bedarf an Anlagen sich daraus ergeben könnte.“