Showdown in Ulster
Wer dachte, für Nordirland sei eine gangbare Lösung gefunden worden, um den britischen EU-Austritt weitgehend schmerzfrei zu bewältigen, hat sich geirrt. Der Krieg in der Ukraine lässt derzeit alle anderen Themen in den Hintergrund rücken. Doch werden gerade die Grundlagen dafür gelegt, die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Handelsblock für viele Jahre zu vergiften. Die Regierung von Premierminister Boris Johnson arbeitet an einem Gesetz zum Schutz des Karfreitagsabkommens, das die rechtliche Grundlage dafür liefern wird, das Nordirland-Protokoll des EU-Austrittsvertrags auszuhebeln.
Das Abkommen, mit dem vor fast einem Vierteljahrhundert der Krieg zwischen Nationalisten und Unionisten in Ulster beendet wurde, soll die Interessen beider Bevölkerungsgruppen gleichermaßen schützen. Doch die Unionisten fühlen sich durch das Nordirland-Protokoll, das eine sichtbare Grenze auf der grünen Insel vermeiden soll, benachteiligt. Sie haben deshalb verhindert, dass das neu gewählte Regionalparlament seine Arbeit aufnehmen kann. Damit sind die politischen Institutionen Nordirlands in Gefahr, die dem Ausgleich zwischen den verfeindeten Lagern dienen.
Dem kann man in London nicht einfach zusehen. Die durch das Protokoll entstandene Zollgrenze, die das Vereinigte Königreich in Ost und West teilt, hat dazu geführt, dass viele britische Unternehmen nicht mehr nach Nordirland liefern. Ulster gehört de facto zum Zollgebiet der EU. Die gewählten Vertreter der Region haben keinerlei Mitspracherecht, wenn es um die Regeln geht, die dort gelten und die erhebliche Auswirkungen auf das tägliche Leben haben. Die politische Einheit des Vereinigten Königreichs wird untergraben. Hinzu kommt, dass sich Brüssel bei der Durchsetzung der Grenzkontrollen besonders große Mühe gibt, obwohl beide Seiten im Nordirland-Protokoll erklärt haben, Kontrollen an Häfen und Flughäfen so weit wie möglich vermeiden zu wollen. So macht die Überprüfung von britischen Gütern, die in nordirischen Häfen angelandet werden, dem Institute of Economic Affairs zufolge rund ein Fünftel aller Kontrollen an den EU-Außengrenzen aus. Dabei entspricht die Einwohnerzahl Nordirlands nicht einmal einem Prozent der Bevölkerung der Staatengemeinschaft. Zudem ist der Handel mit der Republik im Süden im Vergleich zum Warenaustausch mit Restbritannien bedeutungslos.
Nun kann man natürlich argumentieren, dass Johnson das alles bewusst gewesen sein muss, als er den Vertrag unterschrieb. Schließlich hatte er noch Änderungen durchgesetzt, um zu verhindern, dass das ganze Land im regulatorischen Orbit der EU verbleibt. Pacta sunt servanda. Die bayrischen Einserjuristen, die in Brüssel die Korridore bevölkern, mögen das so sehen. Auch unter denjenigen in Großbritannien, die sich immer noch nicht mit dem Brexit abgefunden haben, und unter irischstämmigen US-Demokraten erfreut sich diese Haltung großer Beliebtheit. Es wird also wieder einen großen Aufschrei geben, verbunden mit dem Vorwurf, London verletze geltendes internationales Recht.
Folgt man dieser Argumentation, würde keine Ehe je geschieden und kein Vertrag vor Ablauf gekündigt. Doch das Nordirland-Protokoll ist nicht in Stein gemeißelt. Es kann durch den Gemeinsamen Ausschuss geändert werden und sieht vor, dass es ganz oder in Teilen durch ein späteres Abkommen ersetzt werden kann. Wie es weitergeht, ist eine politische Entscheidung. Es wäre deshalb gut, wenn der EU-Vize Maros Sefcovic über das Mandat verfügen würde, über mehr als technisches Klein-Klein zu verhandeln.
Es wäre ein Fehler zu glauben, dass Johnson vor dem bei Vorlage eines entsprechenden Nordirland-Gesetzes zu erwartenden Ärger zurückschrecken wird. Es hätte einen langen Weg vor sich, kann doch davon ausgegangen werden, dass eine Mehrheit im nicht gewählten Oberhaus alles daran setzen wird, es zu Fall zu bringen. Doch Johnson will klare Kante zeigen, nachdem sich bei den Kommunalwahlen gezeigt hat, dass er beim sozialliberalen Großbürgertum im Speckgürtel der Hauptstadt ohnehin keine Mehrheit mehr hat. Davon zeugt der Umgang mit Zuwanderungswilligen, die aus Frankreich in kleinen Booten über den Ärmelkanal kommen. Nicht dass er das Nordirland-Protokoll unbedingt aufkündigen wollte. Er würde es aber tun, um nicht schwach zu wirken. Um eine weitere Eskalation in Ulster zu vermeiden, müssten beide Seiten die Bereitschaft zeigen, ergebnisoffen zu verhandeln.