Social Media öffnet der Desinformation die Schleusen
Im Blickfeld
Social Media öffnet Schleusen der Desinformation
Die Abschaffung von „Fact Checkern“ auf Facebook und Instagram dürfte laut Experten schwerere Folgen entfalten als ähnliche Maßnahmen von Elon Musks X.
Von Alex Wehnert, New York
Der 28. Oktober 2022 geht als Schicksalsdatum von Social Media in die Geschichte des Internets ein. Denn an diesem Herbsttag vor etwas mehr als zwei Jahren schließt Tesla-Chef Elon Musk seine 44 Mrd. Dollar schwere Übernahme des Kurznachrichtendienstes Twitter ab. In der Folge benennt er die Plattform in X um und verwandelt sie in einen radikalen Hort dessen, was er unter „freier Meinungsäußerung“ versteht.
Einschneidende Veränderungen
Er entlässt Beschäftigte, die für die Moderation von Inhalten zuständig sind – Mitte 2023 geht die für „Vertrauen und Sicherheit“ verantwortliche, damals eigentlich als mögliche Vorstandschefin gehandelte Ella Irwin. Content-Beschränkungen fallen weg, und Musk nutzt X selbst ausgiebig, um seine mitunter auf Fehlinformationen beruhenden Positionen zu illegaler Einwanderung, angeblichem Wahlbetrug in den Vereinigten Staaten und „woker“ Politik zu verbreiten. Im Präsidentschaftswahlkampf 2024 wird der vom Milliardär als „digitaler Stadtplatz“ beschworene Kurznachrichtendienst zur wichtigen Plattform für Donald Trump und seine Anhänger.
Bereits 2023 fahren die zu Alphabet gehörende Videoplattform Youtube und Facebook-Mutter Meta Platforms ihre Bemühungen um Content-Moderation ebenfalls zurück. Sie schaffen Policen ab, die eine Verbreitung von Verschwörungstheorien zu einem groß angelegten Betrug bei den Präsidentschaftswahlen 2020 erschweren sollen. Nun öffnen sich die Fluttore der Desinformation aber noch weiter. So hat Meta-CEO Mark Zuckerberg in der abgelaufenen Woche mitgeteilt, die zentrale Überprüfung von Fakten und „Beschränkungen für die freie Rede“ auf Facebook und Instagram beenden zu wollen. Die sogenannten Fact Checker sollen durch ein „Community Notes“-System nach Vorbild von X ersetzt werden, in dessen Rahmen Nutzer Beiträge markieren können, die ihrer Meinung nach einer stärkeren Einordnung bedürfen.
Aussicht auf Einsparungen
Zuckerberg verspricht sich davon hohe Einsparungen und Effizienzgewinne, musste er für das Fact Checking doch Zehntausende Mitarbeiter binden und externe Kräfte beauftragen sowie aggregierte Kosten im Milliardenvolumen stemmen. Zugleich vermeidet er dadurch eine Konfrontation mit konservativen und rechtspopulistischen Kräften, die bald nicht nur den US-Präsidenten stellen, sondern auch die Mehrheit in beiden Kammern des US-Kongresses einnehmen.
Der Meta-Chef räumte bei seiner Ankündigung zwar ein, dass es „da draußen eine Menge wirklich übles Zeug“ gebe, darunter Inhalte zu Terrorismus und Kindesmissbrauch. Diese wolle die Facebook-Mutter weiterhin von ihren Plattformen verbannen. Forscher räumen zwar ein, dass die „Community Notes“-Systeme Vorteile bieten, da viele Menschen ihre Mitnutzer als vertrauenswürdiger empfänden als Fact Checker von Großkonzernen. Eine echte Content-Moderation lasse sich dadurch aber nicht ersetzen, zumal es viel zu viel Zeit brauche, bis Meldungen schädlicher Inhalte durch Nutzer ausreichend Aufmerksamkeit erhielten.
Weit populärer als X
Zuckerbergs Entscheidung dürfte laut Experten die Erfahrung von Milliarden Menschen auf Facebook und Instagram einschneidend verändern und damit eine deutlich größere Tragweite entfalten als die zurückgefahrene Content-Moderation auf X. Denn die Nutzerzahlen auf den Social-Media-Anwendungen von Meta Platforms fallen weit höher aus als bei der ehemaligen X. Laut Untersuchungen des parteiunabhängigen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center nutzen 70% der erwachsenen Amerikaner Facebook, womit die Popularität des Zuckerberg-Netzwerks nur von Youtube – diese kommt auf 85% – übertroffen wird. Auf Instagram ist die Hälfte der volljährigen US-Bevölkerung aktiv und auf Whatsapp sind es immerhin noch 30%. Die ehemals als Twitter bekannte X kommt hingegen nur auf 21% Marktabdeckung, wobei sich die Tendenz zuletzt fallend entwickelt hat.
Schließlich haben sich infolge kontroverser Äußerungen und Auftritte Musks zahlreiche Nutzer und bedeutende Werbekunden von der Plattform zurückgezogen. Für Unternehmen wie Disney, Apple und IBM wurde ein Antisemitismus-Skandal um den Tesla-Chef 2023 zum Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Musk gab den beteiligten Firmen damals mit, sie sollten sich zum Teufel scheren (wörtlich sagte er „Go fuck yourself“), worauf große Marketingagenturen mitteilten, ihre Kunden würden aufgrund der verbundenen Reputationsrisiken nicht mehr auf X zurückkehren – massive Umsatzeinbußen für die ehemalige Twitter waren die Folge.
Nutzer fliehen zu Alternativen
Während einige große Werbeagenturen laut Berichten der „Financial Times“ nach der US-Wahl eine Rückkehr auf Musks Plattform erwägen, um die Gunst des reichsten Manns der Welt und der von ihm unterstützten Trump-Administration zurückzugewinnen, sieht es beim breiten Publikum anders aus. Laut dem IT-Analyseunternehmen Similarweb löschten nach der Wahlnacht vom 5. auf den 6. November 115.000 US-Nutzer ihre X-Accounts, dies bedeutete den größten Abgang binnen eines Tages seit der Übernahme durch Musk. Viele von ihnen schließen sich der kleineren Konkurrentin Bluesky an, die sich als harmonischere Alternative zur „toxischen“ X positioniert. Laut Chefin Jay Graber gewann die Plattform zuletzt 1 Million Nutzer pro Tag hinzu. Der Bedeutung von Facebook und Instagram mit ihrem Massenpublikum hinkt Bluesky damit aber noch weit hinterher.