Streit um Lieferquoten zwischen Handel und Industrie
Von Martin Dunzendorfer, Frankfurt
Immer häufiger und anhaltender zeigen sich Lücken in den Regalen der Lebensmittel-Einzelhändler. Waren es gestern noch Toilettenpapier und Essenskonserven, nach denen Verbraucher wochenlang erfolglos Ausschau hielten, sind es heute ganz unterschiedliche Produkte; angefangen von Essig und Öl bis hin zu Papiertüten für Backwaren. Nun haben große Supermarktketten in Deutschland angefangen, ihre Lieferanten stärker unter Druck zu setzen.
Aldi Süd soll als Erstes vorgeprescht sein. Der Discounter versucht offenbar, Lieferanten in die Pflicht zu nehmen, um die Warenversorgung sicherzustellen. Nach Angaben aus Marktkreisen fordert das Unternehmen von den Produzenten mit Blick auf das Jahresendgeschäft absolute Liefertreue ein. Es sei sogar damit gedroht worden, dass Aldi bei Lieferquoten, die unter den vertraglich vereinbarten liegen, „Ersatz“ des entgangenen Gewinns fordern werde.
Offenbar hat nun Edeka nachgezogen. Wie die „Lebensmittel-Zeitung“ unter Berufung auf ein dem Blatt vorliegendes Schreiben des Einkaufsgeschäftsführers Dirk Eßmann an Hersteller berichtete, fordert der größte Lebensmittel-Einzelhändler in Deutschland Lieferquoten auf Vorkrisenniveau und droht säumigen Lieferanten Strafzahlungen an. Das ist im Grunde die gleiche, allerdings um zeitliche Nähe verschärfte Linie, die Aldi fährt. Und Edeka legt noch eine Schippe drauf: Die Corona-Pandemie sowie der Ukraine-Krieg seien als Argumente für Lieferengpässe „hinfällig“, zitiert die „Lebensmittel-Zeitung“ aus dem Brief. Ziel müsse wieder eine Quote von 98% sein, die in einigen Verträgen mit der Gruppe festgeschrieben sei. Derzeit kämen viele Lieferanten nur auf 80%.
Die lückenhafte Versorgung mit Waren ist teilweise auch darauf zurückzuführen, dass Edeka zusätzliche Preisforderungen aus der Industrie ablehnt. Die Lieferanten verweisen auf dramatisch gestiegene Preise für Energie, Kraftstoffe, Rohwaren usw. und erklären, dass sie zu den vor der jüngsten Krise vereinbarten Konditionen nicht mehr kostendeckend produzieren können. So kommt es nun immer wieder zu Lieferstopps. Das gilt mitunter sogar für Eigenmarken des Handels, die in der Regel auf den gleichen Produktionsstraßen wie klassische Markenartikel hergestellt werden. Richtig kritisch wird es für den Handel, wenn der Nachschub namhafter Markenanbieter ausbleibt, denn fehlen etwa Coca-Cola, Nescafé, Langnese-Eis oder Actimel-Joghurt im (Kühl-)Regal, reagieren Kunden sehr sensibel und wandern schnell zur Konkurrenz ab.
Preisgleitklauseln, wie sie sich z.B. in der Bauindustrie durchzusetzen beginnen, seien in den Lieferverträgen zwischen Lebensmittelhandel und Produzenten nach wie vor die ganz große Ausnahme, sagt Rolf Hünermann, Partner im Frankfurter Büro der US-Kanzlei Reed Smith. Oligopole wie im deutschen Lebensmittel-Einzelhandel (siehe Grafik) oder in der Automobilindustrie wehrten sich dank ihrer Marktmacht erfolgreich gegen solche Absicherungsmechanismen, die in erster Linie dem Lieferanten zum Vorteil gereichen. Denn bei einer Preisgleitklausel behält sich dieser das Recht vor, bei Erhöhung seiner Selbstkosten den Preis der Ware anzupassen.
Die Frage, ob Lieferanten Strafzahlungen leisten müssen, wenn sie die vereinbarten Lieferquoten nicht einhalten, ist nicht eindeutig zu beantworten. Im Kern ginge es darum, ob ein Wegfall der Geschäftsgrundlage vorläge, der Vertragsanpassungen notwendig macht. Würde z.B. eine Force-majeure-Klausel – ein unvorhersehbares Ereignis, das außerhalb der Kontrolle der Parteien liegt – in den Lieferverträgen greifen und von Lieferverpflichtungen befreien? Wenn die Produzenten Lebensmittel nur aus dem Donbass bezögen, wäre die Sache klar. Doch meistens würde die Klärung der Frage, ob die Umstände bzw. Kostenerhöhungen auf Seiten der Lieferanten dafür gravierend genug sind, die Gerichte wohl Jahre beschäftigen.
Die großen Lebensmittelkonzerne – Nestlé, Unilever, Danone etc. – werden sich von den Drohungen deutscher Lebensmittelhändler nicht einschüchtern lassen. Anders sieht es mit kleineren Herstellern aus, die im Extremfall als Auftragsproduzent für einen oder wenige Artikel für nur einen Händler arbeiten. Ihre Verhandlungsposition ist schwach. Andererseits besteht auch hier eine gegenseitige Abhängigkeit. Selbst wenn eine große Supermarktkette einen kleineren Produzenten aus dem Lieferantenkreis streichen würde – welcher andere Anbieter wäre bereit, zu Vorkrisenpreisen Ware in gefordertem Umfang zu liefern?
Doch bevor es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung im Streit um die Lieferquoten kommt, werden sich Handel und Lieferanten einigen, denn den Rechtsweg scheuen beide Seiten; die Lieferanten, weil er lang und teuer ist, und die Händler zudem, weil ihr Oligopol in Deutschland für sie vor Gerichten von Anfang an ein Handicap ist.
Große Lebensmittelkonzerne | ||
Umsatz 2021 in Mrd. Euro | ||
Nestlé (Schweiz) | 89,4 | |
Pepsico (USA) | 77,7 | |
Unilever (Großbritannien) | 52,4 | |
Coca-Cola (USA) | 37,8 | |
Mondelez (USA) | 28,1 | |
Danone (Frankreich) | 24,3 | |
Quelle: Unternehmen, eigene BerechnungenBörsen-Zeitung |