Sturmwarnung für Europa
Wirtschaftsprognosen für die nächsten Monate zu erstellen ist dieser Tage ein masochistisches Ritual. Die Aussichten sind trübe. Es kündigen sich Turbulenzen an, die sich zu einem gewaltigen Sturm zusammenbrauen könnten. Mancher Ökonom sagt eine schwere Rezession oder gar eine Eurokrise 2.0 voraus.
In der Tat sind die Rahmenbedingungen problematisch. Vor allem ist da die in die Höhe geschnellte Teuerung, die sich nicht schnell wieder zurückbilden wird. Als Belastungsfaktoren kommen anhaltende Lieferkettenprobleme und der in einzelnen Branchen ungewöhnlich hohe Mangel an Arbeitskräften hinzu. Über allem schwebt das Damoklesschwert dramatischer Engpässe in der Gasversorgung – und anderer negativer wirtschaftlicher Konsequenzen des Ukraine-Kriegs. Schließlich sind erhebliche Beeinträchtigungen durch neue Varianten des Coronavirus oder auch wieder ansteigende Infektionszahlen nicht auszuschließen. So weit, so schlecht. Oder sogar: so sehr, sehr schlecht.
Hinzu kommt, dass sich die nationalen Regierungen finanzpolitisch bereits ziemlich verausgabt haben. Die meisten nationalen Schuldenquoten im Euroraum liegen 10 oder 20 Prozentpunkte höher als 2019. Das bedeutet, dass vor allem im Süden zumindest in den eigenen öffentlichen Haushalten kaum mehr Puffer für eine Abfederung von Krisen vorhanden sind.
Gleichzeitig sind die Möglichkeiten der Geldpolitik arg beschränkt. Die Inflation zwingt die Europäische Zentralbank zu einem restriktiveren Kurs und begrenzt damit ihren Einsatz als Retterin in der Not. Und während einst Mario Draghis „Whatever it takes“-Ansage marktberuhigend wirkte, ist noch nicht ausgemacht, wie das neue Sicherheitsnetz zum Schutz gegen eine Spreadausweitung in Euroland, das Anleihekaufprogramm TPI, aufgenommen wird. Gut möglich, dass spekulative Investoren versuchen werden, die EZB zu testen.
Trotzdem: Unbeschadet aller ungünstigen Vorzeichen gibt es Sachverhalte, die Mut machen, dass Europas Volkswirtschaften nicht zwangsläufig in eine tiefe Krise schlittern müssen. Und die Grund zur Hoffnung geben, dass die einheitliche Währung auch diese schwierige (Be-)Währungsprobe überstehen wird.
Erstens treffen die Herausforderungen den Euroraum in einem Moment einer bemerkenswert robusten Verfassung der Arbeitsmärkte. Die Erwerbslosenquoten bewegen sich nahe historischer Tiefs. Zweitens scheinen die Unternehmen recht gut gewappnet. Viele Auftragsbücher sind gefüllt (und das Problem ist vielerorts eher, dass Vorprodukte fehlen, um bestellte Ware auszuliefern). Die Banken – und insbesondere die Finanzierer des Mittelstands – sind ebenfalls aktuell gerüstet. So melden verschiedene Sparkassen unisono, dass der Vorsorgebedarf bislang noch sehr überschaubar sei.
Erfreulicherweise befinden sich auch Banken in Euro-Nachbarländern in besserer Verfassung als etwa vor 2008. Seither wurden faule Kredite abgebaut und Kapitalquoten erhöht. Und schließlich haben sich einige Euro-Regierungen zu Reformen auf der Angebotsseite durchgerungen, die nun – flankiert von finanzieller Hilfe durch den EU-Wiederaufbaufonds – einzelne Euro-Länder etwas krisenresilienter machen.
Spielentscheidend für den Zusammenhalt der Eurozone und der EU in den nächsten Monaten wird freilich sein, ob eine gemeinsame und solidarische Antwort auf die drohenden Gasengpässe gelingt. Vorstellbar ist, dass Länder des Südens, die ihre Gasimportquellen früher als ihre nördlichen Nachbarn diversifiziert haben, ausnahmsweise einmal dem Norden aushelfen. Das hätte zweifelsohne enorme symbolische Wirkung: Wenn etwa Italien im Winter Gas an Deutschland abgeben würde – was nicht undenkbar ist, allerdings sehr davon abhängt, wie die aktuelle Regierungskrise in Rom ausgeht.
Kurzum: Kein anderes Wort ist derzeit so oft zu hören wie „Ungewissheit“. Das gilt auch und insbesondere mit Blick auf die Fragen, ob in Europa eine schwere Rezession droht – und der Eurozone die nächste Zerreißprobe. Kann sein, muss aber nicht sein. Für die Selbstverständlichkeit, mit der mancher bereits das Wort Eurokrise im Mund führt, gibt es daher noch keine belastbare Grundlage. Gewiss ist lediglich, dass EU und Eurozone auf Turbulenzen zusteuern – und es in den nächsten Monaten eher schwieriger wird als einfacher. Oder wie es einst Bankaufseher Jochen Sanio in anderem Kontext formuliert hat: Dieses Jahr läuft doch gar nicht schlecht – zumindest verglichen mit dem nächsten.