Vom ESG-Zeitgeist verweht
Man muss nicht auf deutsche Universitäten und Vortragsverbote für „unqueere“ Wissenschaftler schauen, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie es um die Freiheit des Denkens und Sprechens in unserer Gesellschaft bestellt ist. Es braucht nicht die Empörung von Arbeitskreisen „kritischer Jurist*innen“ wie an der Humboldt-Universität in Berlin, um den freien Austausch von Argumenten und Meinungen und damit den Wettbewerb von Ideen in Gefahr zu sehen. Die Protagonisten – oder sind es doch nur Mitläufer? – der Cancel Culture finden sich auch in Vorständen und Aufsichtsräten von Unternehmen. Insbesondere die Finanzbranche tut sich dabei hervor, seit dort der ESG-Zeitgeist weht.
Die Fälle HSBC und DWS
Beispielhaft sei an den Rücktritt von Stuart Kirk erinnert, der als Global Head of Responsible Investing der Großbank HSBC im Mai auf Anweisung von HSBC-Chef Noel Quinn vom Dienst suspendiert wurde und nun im Juli seinen Hut nahm. Kirk hatte es gewagt, auf einer Konferenz der „Financial Times“ mit dem bezeichnenden Namen „Moral Money Summit“ zu erläutern, „why investors need not worry about climate risk“. Jeder, der schon einmal eine Konferenz organisiert hat, weiß, dass in Zeiten der Informationsüberflutung nur provokante oder kontroverse Thesen und Themen das Publikum locken. Was der ehemalige Lex-Kolumnist der „Financial Times“ dann den Zuhörern präsentierte, war weder kriminell noch sensationell, traf aber den wunden Punkt mancher Banker. Kirks Botschaft war, dass die Weltuntergangsszenarien der Klimaaktivisten falsch seien, weil sie technischen Fortschritt, Innovationen und Anpassungsfähigkeit der Menschheit nicht im Kalkül hätten. Und dass es für Investoren aktuell mit China, Kryptokrise, Inflation und Rezessionsgefahr gravierendere Themen gebe als ESG und das finanzielle Risiko des Klimawandels.
Als Kirk dann die steigende Meeresspiegel fürchtenden Weltuntergangspropheten auch noch darauf hinwies, dass Amsterdam schon seit Ewigkeit sechs Meter unter dem Meeresspiegel liege und ja wohl eine „richtig schöne Stadt“ sei, war es zu viel für die humorbefreiten Anhänger der Klimagruppe „Bank on our Future“. Nach Shitstorms in den sozialen und anderen Medien distanzierte sich der HSBC-Chef umgehend von seinem ESG-Vordenker. Dabei hatte man Kirk erst zwei Jahre zuvor von der Fondsgesellschaft DWS geholt, wo er Head of Research war, um bei HSBC „differenzierte und zum Nachdenken anregende Inhalte“ für Investoren zu entwickeln.
Apropos DWS: Seit dem Rücktritt von Asoka Wöhrmann als DWS-CEO mal wieder was gehört über die Stichhaltigkeit des Vorwurfs des Kapitalanlagebetrugs durch Greenwashing? Deutsche-Bank-CEO Christian Sewing scheint da ähnlich (vor)schnell mit dem Social-Media-Mainstream unterwegs gewesen zu sein wie sein HSBC-Kollege, wobei in Frankfurt die medienwirksame Razzia der Staatsanwaltschaft keinen geringen Beitrag zum öffentlichen Druck auf die mit Greenwashing-Vorwürfen konfrontierte Fondsgesellschaft geleistet hat. Die von DWS-Aufsichtsratschef Karl von Rohr beklagte Vorverurteilung Wöhrmanns hat sich vor allem durch das Lavieren der Deutschen Bank und ihres Chefs in dieser Sache zum Urteil materialisiert. Man darf gespannt sein, wie die Positionierung der Bank zum Greenwashing wahrgenommen wird, wenn demnächst der bisherige PR-Chef der Deutschen Bank, Jörg Eigendorf, als Chief Sustainability Officer fungiert.
Nicht nur Unternehmen und Banken gerieren sich wie NGOs im Einsatz für eine bessere Welt, der „woke Kapitalismus“ hat längst Aufseher und Regulierer erfasst. Ob ESG-Merkblätter der BaFin oder Klimastresstest der EZB – wer dem ESG-Zeitgeist nicht mit voller Inbrunst und maximalem Aufwand folgt, wird schnell an den Pranger gestellt. Auf „Naming and Shaming“ hat die EZB beim ersten Klimastresstest zwar noch verzichtet, doch der Druck wird zunehmen. Die Banken, mahnte EZB-Bankenaufseher Andrea Enria, müssten ihre Bemühungen zur Messung und Steuerung des Klimarisikos verstärken. Banken als Klima-Ratingagentur oder gar als Klimapolizisten? Strategieberater jedenfalls sehen schon ein Comeback der von Fintechs bedrängten Banken in der Rolle als ESG-Transformationspartner.
Der politischen Agenda der Aufsichtsbehörden käme eine solche Transformation entgegen. Schon jetzt setzen sie Finanzinstitute mit dem Hinweis auf Defizite im Klima-Risikomanagement unter Druck. Dass es sich dabei meist um einen Zirkelschluss handelt, wagt kaum jemand zu thematisieren. Das Risikomanagement erfordert ESG-Analysen, um Risiken zu identifizieren und zu risikoreiche Investments zu vermeiden. Wenn Unternehmen, die bei ESG-Analysen schlecht abschneiden, folglich von Banken kein Kapital mehr erhalten, sinken Aktienkurs und/oder Kapitalausstattung und Rating. Für die Bank ist das dann die Bestätigung, mit der höheren Risikoeinschätzung dieser ESG-mäßig schwächer abschneidenden Unternehmen richtig gelegen zu haben.
Banken nicht ESG-Blockwart
In einer Zeit, in der die Erfassung und Bewertung nichtfinanzieller Aspekte noch am Anfang stehen, sollten Banken sich davor hüten, den ESG-Blockwart am Kapital- und Kreditmarkt zu spielen. Das Fehlen von allgemein anerkannten Klimakennziffern und verlässlichen Daten wird bisher durch gesellschaftspolitische Vorgaben ersetzt, wissenschaftliche Fundierung durch Glaubensbekenntnisse. Assetmanager orientieren sich schon daran, was NGOs derzeit als gemeinwohlorientiert definieren.
Doch Vorsicht! Wir haben gesehen, wie schnell die Politik nach Russlands Ukraine-Invasion bis dato als unverrückbar geltende Bewertungen von Energieträgern wie Erdgas, Flüssiggas, Kohle oder Kernkraft quasi über Nacht geändert hat und damit auch die Bewertung von Finanzrisiken im Kampf gegen den Klimawandel. Wer die Finanzierung der Wirtschaft an den gesellschaftspolitischen Mainstream bindet, höhlt die Marktwirtschaft und den Wettbewerb um die besten Lösungen aus.
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