Brüssel

Was „cringe“ und „Taxonomie“ miteinander verbindet

Eines der Wörter des Jahres 2021 in Brüssel lautet „Taxonomie“. Der Begriff, mit dem vor einem Jahr außerhalb der Finanzwirtschaft nur einige Nerds etwas anfangen konnten, ist mittlerweile in aller Munde.

Was „cringe“ und „Taxonomie“ miteinander verbindet

Seit Ende Oktober wissen wir, was in Deutschland das Jugendwort des Jahres 2021 ist: Die Wahl fiel auf „cringe“. Der Begriff beschreibt etwas Peinliches oder Unangenehmes, ein Gefühl des Fremdschämens und gehört zumindest nach Erkenntnissen des Langenscheidt-Verlags, der hinter dieser jährlichen Wahl steckt, zum aktiven Sprachgebrauch der Zehn- bis 20-Jährigen. In Brüssel wurde bislang noch kein Wort des Jahres gekürt. Wenn man sich hier im EU-Viertel aber einmal umhören würde, vielleicht in der etwas betagteren Altersgruppe der 20- bis 70-Jährigen, käme sicherlich sehr schnell der Begriff „Taxonomie“ ins Spiel.

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Es ist erstaunlich, welche Karriere diese Umschreibung des Klassifizierungssystems für nachhaltige Investitionen in diesem Jahr gemacht hat. Erst seit 2018 zirkuliert das Wort im Zuge der damals neuen Sustainable-Finance-Politik der Kommission auf den Brüsseler Bühnen. Die Finanzwirtschaft ist zwar schon sehr schnell aufmerksam geworden. Ansonsten konnten mit Taxonomie nur ein paar Nerds etwas anfangen. Dies änderte sich auch nicht, als EU-Parlament und Mitgliedstaaten Ende 2019 den Taxonomie-Gesetzesrahmen festgezurrt hatten. Lediglich ersten beteiligten Abgeordneten schwante es, dass hier vielleicht ein neues „Bürokratiemonster“ das Licht der Welt erblickt habe. 2020 wurde dann auch in Brüssel nur über ein Virus und nicht über die Taxonomie gesprochen.

Doch in diesem Jahr? Seit dem Frühjahr wird auf allen politischen Ebenen der EU und in der Öffentlichkeit munter über das Klassifizierungssystem diskutiert. Natürlich, die ganzen äußerst technischen Details sind weiter eine Wissenschaft für sich. Aber jeder hat mittlerweile mitbekommen, dass es bei der Taxonomie auch um die äußerst kontroverse und politisch sensible Entscheidung geht, ob Atomkraft und Erdgas nun ein offizielles Nachhaltigkeitssiegel erhalten sollen oder nicht. Dies hat Auswirkungen auf künftige Finanzierungskosten, auf künftige Fördermöglichkeiten und auf die künftige Zusammensetzung grüner Anleihen. Die Entscheidung hat massiven Einfluss darauf, wie der Energiemix der Zukunft aussieht.

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In Deutschland ist es seit rund einem Monat immer einfacher, die Wörter „cringe“ und „Taxonomie“ in einem Satz zu verbinden. Seit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Oktober herausposaunte, Europa brauche mehr erneuerbare Energien, aber auch eine stabile Energiequelle wie die Atomkraft, scheint nämlich die Vorentscheidung in der hochemotionalen Frage gefallen zu sein.

Wann die Behörde, die sich im April noch vor dieser Frage weggeduckt hatte, nun offiziell ihren delegierten Rechtsakt dazu vorlegen wird, ist noch unklar. Es dürfte aber noch vor Weihnachten sein. Die Veto-Möglichkeiten der Mitgliedstaaten und des EU-Parlaments sind begrenzt: Nur mit einer qualifizierten Mehrheit wäre die Entscheidung der Kommission noch zu revidieren. Und die ist in dieser strittigen Frage nicht absehbar, worauf auch die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Woche noch einmal hingewiesen hat.

20 Länder müssten schon mit Nein stimmen. „Das ist eine sehr hohe Hürde und ist voraussichtlich nicht der Fall“, sagte Merkel jüngst. „Das Verfahren an sich kann nur schwer wieder aufgehalten werden, wenn die EU-Kommission etwas vorlegt.“ Und das bedeutet für die Ampel-Verhandlungen in Berlin: Die neue Koalition kann zum Thema Atomkraft und Gas beschließen, was sie will. In der EU ist der Zug wohl schon abgefahren.

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Nicht nur die Ampel, sondern auch die Banken sagen da wohl „cringe“. So hat etwa ganz aktuell die „Net Zero Banking Alliance Germany“ (Deutsche Bank, Commerzbank, LBBW, DZ Bank etc.) ein Positionspapier erarbeitet, das auch auf die Atom- und Gasfrage mit einem klaren Statement eingeht: „Da die EU-Taxonomie den Prinzipien der Technologieneutralität und der Wissenschaftlichkeit folgt, bleibt für diese Technologien nur wenig Raum“, heißt es hier.