Gastbeitrag60 Jahre Aktiengesetz

60 Jahre Aktiengesetz – Evergreen oder Auslaufmodell?

Das Aktiengesetz, das in diesem Jahr 60 Jahre alt wird, steht im internationalen Wettbewerb. Viele Unternehmen haben bereits andere Rechtsformen gewählt. Es gibt erheblichen Reformbedarf.

60 Jahre Aktiengesetz – Evergreen oder Auslaufmodell?

Evergreen oder Auslaufmodell?

60 Jahre Aktiengesetz − Rechtsordnungen stehen im internationalen Wettbewerb – Deutsche Aktiengesellschaft droht zurückzufallen

Von Alexander Kiefner
und Thilo Diehl *)

In diesem Jahr wird das Aktiengesetz, wie wir es kennen, 60 Jahre alt. Wie so oft bei runden Geburtstagen bietet es sich an, zurück und nach vorne zu schauen und dabei auch die engsten Verwandten des Jubilars, im vorliegenden Fall die Societas Europeae (SE), das Mitbestimmungsrecht und das Kapitalmarktrecht in den Blick zu nehmen: Was ist gut, was ist verbesserungswürdig und wo droht die Aktiengesellschaft (AG) im internationalen Wettbewerb der Rechtsordnungen den Anschluss zu verlieren.

Fundament wankt

Die deutsche Aktiengesellschaft ist die naheliegende Wahl, wenn deutsche Unternehmen einen großen Kreis von Eigenkapitalgebern ansprechen. Die Rechtsform ist viele Jahre erprobt und bietet einen verlässlichen und sehr vertrauten Rechtsrahmen. Woher kommt also die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der AG?

Das Fundament, auf dem die AG steht, ist über die Jahre zunehmend ins Wanken geraten. Viele Unternehmen haben bereits die Rechtsform einer SE gewählt, die z.B. den international üblichen Verzicht auf die Trennung von Vorstand und Aufsichtsrat ermöglicht und auch im Fall der Mitbestimmung Gremiengrößen erlaubt, die besser handhabbar sind als ein 20-Personen-Aufsichtsrat im Fall einer mitbestimmten deutschen AG mit über 20.000 Mitarbeitern.

Stada wählt N.V.

Zudem treten im Wettbewerb der Rechtsordnungen andere kapitalmarktorientierte europäische Rechtsformen auf den Plan, die mehr Flexibilität bieten, wie etwa die niederländische Naamloze Vennootschap (N.V.) oder die luxemburgische Société Anonyme (S.A.).

Längst erlaubt es das Europarecht, dass auch Unternehmen, die im Kern deutsch sind, das Rechtskleid eines anderen EU-Landes annehmen. Oft ist es ein Leichtes, eine neue ausländische Obergesellschaft zwischenzuziehen. So hat etwa der Arzneimittelhersteller Stada erst kürzlich mitgeteilt, für seinen geplanten Börsengang eine Obergesellschaft in der Rechtsform einer N.V. zu wählen.

Bei SPACs spielt deutsche AG keine Rolle

Besonders augenscheinlich wird der Wettbewerb der Rechtsformen, wenn deutsche Unternehmen ihre Aktien nicht nur an den deutschen, sondern auch an den deutlich liquideren US-Kapitalmarkt bringen möchten und dabei eine vollwertige Börsennotierung in den USA anstreben (sich also nicht mit einer „Umverpackung“ in Gestalt von American Depositary Receipts zufriedengeben wollen). Auch beim kürzlichen Hype um börsennotierte Erwerbsvehikel (SPACs) spielte die deutsche AG – anders als N.V. und S.A. – keine Rolle, obwohl auch deutsche Unternehmen Gegenstand dieser Transaktionen wurden. Allenthalben ist zu hören, dass das deutsche Aktienrecht zu starr sei und zu wenig maßgeschneiderte Lösungen erlaube.

Den Wandel fortsetzen

Die Frage nach der Reformbedürftigkeit des deutschen Aktienrechts ist nicht neu, sondern begleitet die Praxis schon seit über 20 Jahren. Erfreulicherweise hat sich gerade in letzter Zeit einiges getan: Mehrstimmaktien sind seit letztem Jahr wieder möglich, Sonderregeln für deutsche SPACs wurden im Börsengesetz eingeführt und der mögliche Spielraum für erleichterte Bezugsrechtsausschlüsse bei Kapitalmaßnahmen ist von 10 auf 20% angehoben worden. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Rechtsprechung haben zudem die Bedeutung des Börsenkurses als Bewertungsmaßstab für Kapitalmaßnahmen und Corporate Transactions gestärkt und leisten damit einen wichtigen Beitrag, Bewertungsrisiken besser abschätzen zu können.

Erleichterte Börsenzulassung

Auf dieser Linie liegt auch das Kapitalmarktrecht, welches etwa den Rahmen für eine erleichterte Börsenzulassung von neuen Aktien erweitert und die elektronische Aktie als neue Aktienform eingeführt hat. Weitere Reformvorschläge (etwa zum Recht des Aufsichtsrats) liegen bereits ausgearbeitet auf dem Tisch, so dass es darum gehen muss, jetzt nicht nachzulassen und auf halber Strecke Halt zu machen.

Reform des Beschlussmängelrechts

Der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme könnte dabei in der seit über 20 Jahren angemahnten Reform des Beschlussmängelrechts liegen, also der Frage, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen Beschlüsse der Hauptversammlung (HV) von Klein(st)aktionären angegriffen und blockiert werden können. Dieses sehr deutsche Thema, das vor allem angelsächsischen Investoren kaum vermittelbar ist, wird hoffentlich in der kommenden Legislaturperiode endlich gelöst.

Nur wenn sich Emittenten darauf verlassen können, dass mit großer Mehrheit getroffene HV-Entscheidungen trotz Angriffen von Kleinaktionären Bestand haben, ohne etwaige Eilverfahren durchlaufen zu müssen, kann die Hauptversammlung ihren Zweck erfüllen, das Entscheidungszentrum für alles „wirklich Wichtige“ zu sein. Hier sind uns viele angelsächsische Länder voraus. Ist dieser gordische Knoten erstmal durchschlagen, verliert auch die Frage nach dem „Wie“ der HV-Durchführung (physisch, virtuell oder in hybrider Form) schlagartig an Bedeutung.

Verkauf von Assets

Zwei Beispiele illustrieren dies anschaulich: Verkauft eine Aktiengesellschaft einen Großteil ihrer Assets, bedarf diese Transaktion nach deutschem Aktienrecht – auch wenn dies für den Nicht-Juristen überraschend erscheinen mag – trotz ihrer überragenden wirtschaftlichen Bedeutung nicht zwingend einer Zustimmung der Aktionäre.

Eine „freiwillige“ Vorlage an die Hauptversammlung unterbleibt aus Sorge vor Klagen von Kleinaktionären selbst dann, wenn eine überwältigende Aktionärsunterstützung erwartet wird. Internationale Investoren schütteln den Kopf, wenn man ihnen dies zu erklären versucht.

Beispiel Kapitalerhöhungen

Ein weiteres Beispiel sind Kapitalerhöhungen durch Ausnutzung des genehmigten Kapitals unter Bezugsrechtsausschluss. So steht etwa der einflussreiche Stimmrechtsberater ISS Vorratsermächtigungen zugunsten der Verwaltung weiterhin skeptisch gegenüber und unterstützt ermächtigungsgestützte Bezugsrechtsausschlüsse derzeit nur bis zu einem Umfang von 10%; die jüngsten gesetzgeberischen Erleichterungen (Ausweitung des erleichterten Bezugsrechtsausschlusses auf bis zu 20%) laufen insoweit leer. Somit müsste die Hauptversammlung entscheiden, wenn der Bezugsrechtsausschluss höher sein soll – hiervor schrecken aber viele Emittenten aus Sorge vor Transaktionsrisiken zurück.

Stärkung der Hauptversammlung

Zusammengefasst geht es mit der Reform des Beschlussmängelrechts also in der Sache um eine Stärkung der Hauptversammlung und nicht, wie bisweilen behauptet wird, um einen Kahlschlag bei den Aktionärsrechten. Die Vorschläge für eine Reform, die auch die Partizipations- und Informationsinteressen von Kleinaktionären berücksichtigt, liegen auf dem Tisch. Jetzt gilt es, diese Vorschläge konsequent umzusetzen.

Enge Satzungsregeln

Ein althergebrachtes Prinzip des deutschen Aktienrechts ist die Satzungsstrenge. Anders als etwa bei der GmbH sind die Gestaltungsspielräume für Satzungsregelungen, die vom gesetzlichen Regelfall abweichen, sehr eng. Diese Strenge mag in der Vergangenheit als Zwang zur weitgehenden Standardisierung der Ausgestaltung der „Aktie“ ihre Berechtigung gehabt haben, ist jedoch in dieser Striktheit bei international vernetzten Kapitalmärkten nicht mehr zeitgemäß. Jedenfalls in ausgewählten Bereichen sollte Flexibilität einziehen.

One-Tier-Governance

„One size fits all“ passt nicht, wenn man sowohl dem an die Börse strebenden Start-up als auch dem längst etablierten Großkonzern ein Rechtsformangebot machen will. Wie schon bei der deutschen SE sollte auch bei der AG die Möglichkeit zu einer One-Tier-Governance (Verwaltungsrat) mit Executive und Non-Executive Mitgliedern bestehen. Auch den konkreten Umfang von Kapitalermächtigungen sollte man – wie etwa in den Niederlanden – stärker dem Markt überlassen.

Mehr Freiheit wagen

Wünschenswert, aber vermutlich nur schwer durchsetzbar dürfte die Forderung sein, die starren Vorgaben des Mitbestimmungsgesetzes für die Größe eines mitbestimmten Aufsichtsrats aufzuweichen und hier den strukturellen Nachteil gegenüber der SE einzuebnen. Schlüsselfertig sind zudem diverse weitere Vorschläge zur Reform des Aufsichtsrats, welche die Handlungsfreiheit des Aufsichtsrats stärken würden. Es gibt einiges zu tun. Packen wir es an.

*) Dr. Alexander Kiefner und Thilo Diehl sind Partner der Kanzlei White & Case in Frankfurt.

*) Dr. Alexander Kiefner und Thilo Diehl sind Partner der Kanzlei White & Case in Frankfurt.