EU-Digitalgesetz vor dem Praxistest
Von Michael Dietrich und Maximilian Graf Zedtwitz von Arnim*)
Die Europäische Kommission hat am 15. Dezember 2020 einen Vorschlag für eine Verordnung über bestreitbare und faire digitale Märkte (Digital Markets Act – DMA) vorgestellt und damit einen Paradigmenwechsel bei der Aufsicht über Tech-Unternehmen eingeleitet. Adressaten des DMA sind zentrale Plattformdienste, die aufgrund ihrer Größe für gewerbliche Nutzer und Endkunden im Binnenmarkt ohne echte Alternative sind.
Der federführende Ausschuss des Europäischen Parlaments (EP) unter Leitung von Andreas Schwab hatte über mehr als 1000 Änderungsanträge zu beraten, bevor das EP den überarbeiteten Entwurfstext am 15. Dezember 2021 angenommen hat. Der Europäische Rat hat parallel zur Beratung im EP am 25. November 2021 ebenfalls Änderungsvorschläge vorgelegt. Im Januar 2022 haben die Trilog-Gespräche zwischen Kommission, EP und Rat begonnen. Der endgültige Text soll wohl vor Ende März vorliegen. Damit könnte der DMA im Laufe des Jahres in Kraft treten.
Anlass für das Gesetzesvorhaben waren Schwierigkeiten bei der effektiven Durchsetzung des europäischen Kartellrechts in der Digitalwirtschaft. Nach verbreiteter Auffassung hat sich das Kartellrecht hier als stumpfes Schwert erwiesen. Zwar wurden in den letzten Jahren zahlreiche Verfahren wegen des Verdachts des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gegen große Digitalunternehmen eingeleitet. Sie kamen aber aus Sicht der Beschwerdeführer häufig zu spät und hatten, wenn sie nach Jahren ihren Abschluss vor den europäischen Gerichten gefunden haben, keine Relevanz mehr für das konkrete Wettbewerbsproblem.
Exemplarisch für die lange Verfahrensdauer von Kartellverfahren in Brüssel steht der Fall Google Shopping. Im November 2009 hatte die Kommission nach Beschwerden von Marktteilnehmern ein Verfahren gegen Google wegen des Verdachts des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung eingeleitet. Ziel des Verfahrens war es, die Selbstbevorzugung der eigenen Dienste durch Google zu beenden und die Darstellung von Preisvergleichen in den Ergebnissen der Google-Suche für konkurrierende Anbieter zu öffnen. Erst 2017 verhängte die Kommission ein Bußgeld von 2,4 Mrd. Euro gegen Google. Zwar wurde diese Entscheidung im November 2021 vom Europäischen Gericht erster Instanz bestätigt. Final ist die Entscheidung damit aber nicht. Google wird das Urteil jetzt noch mit einer Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof angreifen.
Gatekeeper-Status
Um schneller gegen unfaires Wettbewerbsverhalten einschreiten zu können, verzichtet der DMA auf zentrale Instrumente des Kartellrechts. Ohne Prüfung des Einzelfalls sind die Normadressaten ex ante verpflichtet, insgesamt 22 Verhaltenspflichten einzuhalten. Die Abgrenzung der betroffenen Märkte ist nicht mehr erforderlich. Ebenso wenig hat die Kommission das Bestehen einer marktbeherrschenden Stellung nachzuweisen oder die Missbräuchlichkeit des Verhaltens auf Basis einer belastbaren Schadenstheorie festzustellen.
Adressaten des DMA sind digitale Plattformen, die bei bestimmten zentralen Diensten über eine Gatekeeper-Position verfügen. Erfasst werden sollen Unternehmen, denen eine besonders wichtige Funktion bei der Vermittlung von Waren und Dienstleistungen gegenüber Verbrauchern zukommt, so dass sie auf mehrseitigen Märkten als Schnittstelle fungieren.
Zu den zentralen Plattformdiensten zählen u. a. Online-Vermittlungsdienste (z. B. App Stores), Betriebssysteme (z. B. Windows oder Android), Browser, Cloud-Computing-Dienste oder Werbedienste (z. B. Google Ads, Microsoft Advertising oder Facebook Audience Network). Daneben müssen weitere qualitative oder quantitative Kriterien erfüllt sein, z. B. hinsichtlich der monatlichen Zahl der Nutzer.
Erfüllt der Anbieter eines zentralen Plattformdienstes diese Kriterien, muss er die Kommission innerhalb von drei Monaten, nach dem Willen von Parlament und Rat sogar innerhalb von nur zwei Monaten, in Kenntnis setzen. Diese hat dann maximal 60 Tage, um den Gatekeeper-Status festzustellen. Als designierter Gatekeeper muss das Unternehmen innerhalb von sechs Monaten sicherstellen, dass es alle Verhaltenspflichten erfüllt.
Nicht jede der Verpflichtungen findet auf alle Plattformdienste gleichermaßen Anwendung. Sie sind teilweise abstrakt gefasst und in ihrem Anwendungsbereich unklar. In einigen Fällen sind sie unmittelbar anwendbar, in anderen Fällen ist eine nähere Spezifizierung und Auslegung durch die Kommission erforderlich. Für die Praxis wird daher bedeutsam sein, dass die aus dem DMA resultierenden Verhaltenspflichten von der Kommission in Leitlinien konkretisiert werden. Der DMA nimmt inhaltlich auf die jüngere kartellrechtliche Entscheidungspraxis im digitalen Sektor Bezug. Schlagwortartig lassen sich die Ge- und Verbote wie folgt kategorisieren:
• Schaffung von Transparenz
• Keine Diskriminierung, nicht leistungskonforme Selbstbevorzugung und Behinderung von Wettbewerbern
• Zugang zu Daten und Ökosystemen
• Erhöhung der Nutzer-Mobilität
• Fairness.
Wegen der inhaltlichen Überschneidungen mit dem Kartellrecht sind vor allem das Verhältnis zwischen DMA und Kartellrecht sowie die Zuständigkeiten beim Vollzug des DMA zentrale Punkte, die in den laufenden Trilog-Verhandlungen noch zu klären sind.
Mit Blick auf das Verhältnis zum Kartellrecht ist festzuhalten, dass der DMA als Verordnung das primärrechtliche Kartell- und Missbrauchsverbot in Art. 101 und 102 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) unberührt lässt. Des Weiteren ist im DMA kein allgemeiner Geltungsvorrang gegenüber den kartellrechtlichen Vorschriften in den Mitgliedstaaten enthalten. Sie kommen gleichberechtigt neben den Regeln des DMA zur Anwendung.
Etwas anderes gilt nur für Verbote von einseitigen Verhaltensweisen, die nicht zum Kanon des kartellrechtlichen Missbrauchsverbots gehören und Gatekeepern keine strengeren Verhaltenspflichten auferlegen als der DMA. In solchen Fällen hat der DMA Vorrang gegenüber nationalen Regelungen. Mit Blick auf die vom DMA angestrebte Harmonisierung der Regeln für Gatekeeper im Binnenmarkt erscheint das folgerichtig.
Der Geltungsvorrang betrifft insbesondere den mit der 10. GWB-Novelle eingeführten § 19a GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen). Sobald die Kommission die ersten Gatekeeper nach dem DMA benannt hat, wird das Bundeskartellamt nur dann noch Entscheidungen gegen Google, Apple oder Facebook erlassen können, wenn ihr Inhalt über die Bestimmungen des DMA hinausgeht. Aber selbst dann braucht die Behörde – zumindest nach den Vorstellungen des EP – nur grünes Licht von der Kommission, dass ihre Entscheidung nicht dem DMA oder der diesbezüglichen Verwaltungspraxis in Brüssel zuwiderläuft.
Paradigmenwechsel
Damit ist auch die Frage nach der Zuständigkeit aufgeworfen. Der Parlamentsentwurf sieht vor, dass der Vollzug des DMA zentral durch die Kommission erfolgt. Nationalen Behörden bleibt nach aktuellem Stand nur eine beratende und unterstützende Funktion.
Die Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Kommission ist noch offen. Wahrscheinlich wird die für Kartellrecht zuständige Generaldirektion Wettbewerb auch den DMA vollziehen. Denkbar ist aber auch, dass eine andere Generaldirektion hiermit befasst wird.
Ob die bisher eingeplanten 80 Mitarbeiter ausreichen werden, um den Vollzug zu gewährleisten, bleibt abzuwarten. Erfahrungswerte gibt es nicht. Einiges wird davon abhängen, wie viele Gatekeeper-Kandidaten es gibt und wie viel Aufwand der Designierungsprozess und die Überwachung der Gatekeeper-Verpflichtungen erfordert.
Vor dem Hintergrund des mit dem DMA verbundenen Paradigmenwechsels von nachträglicher Missbrauchsaufsicht hin zu sektorspezifischer Ex-ante-Regulierung überrascht, wie schnell sich der DMA als richtiges Instrument zur richtigen Zeit etabliert hat. Den Praxistest muss der DMA freilich noch bestehen.
Da sämtliche Regeln ohne Rücksicht auf die völlig unterschiedlichen Geschäftsmodelle der Gatekeeper Anwendung finden, könnte das die Effektivität und Zielgenauigkeit des DMA beeinträchtigen und gegebenenfalls unverhältnismäßige Eingriffe der Kommission zur Folge haben.
*) Dr. Michael Dietrich ist Partner und Maximilian Graf Zedtwitz von Arnim Counsel im Bereich Kartellrecht von Clifford Chance.