Flucht aus der deutschen Rechtsform
Von Lars-Gerrit Lüßmann *)
Im Juni wurden aus der Bundesregierung zwei Papiere vorgelegt, die beide das Ziel haben, die Rahmenbedingungen für Wachstumsunternehmen in Deutschland zu verbessern und deren Finanzierung durch Wagniskapital, aber auch durch den Kapitalmarkt zu fördern. Das Bundeswirtschaftsministerium hat den Entwurf für eine Start-up-Strategie vorgelegt (Strategiepapier), Bundesfinanz- und Bundesjustizministerium wenige Wochen später Eckpunkte für ein Zukunftsfinanzierungsgesetz (Eckpunkte). Höchste Zeit.
Deutschland gehört zwar nach wie vor zu den innovativsten Ländern der Welt. Im Jahr 2020 waren 2 700 deutsche Unternehmen Innovationsführer – Rang 1 der innovativsten Volkswirtschaften. Der deutsche Mittelstand stand mit rund 1 300 „Hidden Champions“ im Jahr 2018 für 48% aller mittelständischen Weltmarktführer.
Nicht hoch im Kurs
Anders steht es aber bei der Finanzierung von Innovation und Wachstum. Im EU- und internationalen Vergleich investieren wir unterdurchschnittlich wenig in junge Unternehmen. Das Strategiepapier konstatiert, dass vor allem im Spätphasensegment der Wagniskapitalfinanzierung ausländische, insbesondere amerikanische Investoren überwiegen – eine mit Blick auf die technologische Souveränität, die Innovationskraft und die Sicherung von Arbeitsplätzen bedenkliche Entwicklung.
Obwohl eine aktuelle Studie der Kommunikationsagentur Relatio PR belegt, dass Börsengänge auch in Deutschland Wachstum und Arbeitsplätze schaffen, ist die Finanzierung junger Unternehmen über die Börse hierzulande immer noch schwach ausgeprägt, der Markt volatil und Börsengänge selten. Im Boom-Jahr 2021 gab es 30 IPOs in Deutschland (einschließlich Freiverkehr). In den USA waren es 397 und in China 2 103. Viele innovative Unternehmen zieht es auf der Suche nach Kapital ins Ausland (Biontech, Curevac, Trivago, Centogene, Inflarx oder Vivoryon).
Der Weg an einen ausländischen Börsenplatz (oft Euronext Amsterdam bzw. Paris oder die Nasdaq in New York) ist in der Regel mit einem Rechtsformwechsel und einer Sitzverlegung verbunden – auch für die Nasdaq in der Regel Luxemburg oder die Niederlande. Aber auch Unternehmen, die sich noch in der Wagniskapitalphase befinden, ziehen weg von der deutschen Rechtsform ins Ausland, insbesondere wenn sie mit ausländischem Kapital finanziert sind. Die deutsche Aktiengesellschaft und GmbH stehen bei ausländischen Investoren nicht hoch im Kurs.
Im Nachteil
Dies bedeutet einen signifikanten Standortnachteil (Stichwort: technologische Souveränität). Anders als im Strategiepapier insinuiert, geht es nicht nur um die nationale Herkunft des Kapitals, sondern auch um die Attraktivität des Unternehmensstandorts und des Kapitalmarkts.
Strategiepapier und Eckpunkte wollen die Mobilisierung von Wagniskapital fördern und den Kapitalmarkt etwa durch stärkere Kapitalmarktorientierung der Altersvorsorge oder eine Erleichterung von Börsengängen stärken; eine Flexibilisierung der gesellschaftsrechtlichen Regeln soll die Unternehmensfinanzierung erleichtern.
Wenn die Papiere nicht nur die Kapitalmarktregeln in den Blick nehmen, sondern auch das Gesellschaftsrecht, ist das uneingeschränkt zu begrüßen. Handlungsbedarf besteht an vielen Stellen. Unser Gesellschaftsrecht hält an dem Grundsatz fest, dass die strengen Anforderungen an die Kapitalaufbringung und -erhaltung ein notwendiger Ausgleich dafür sind, sich am Wirtschaftsleben ohne Inkaufnahme persönlicher Haftung zu beteiligen. Zwar beruhen diese Grundsätze größtenteils auf der „EU-Kapital-Richtlinie“ von 1976. Die Praxis zeigt aber, dass andere europäische Rechtsordnungen flexibler und pragmatischer damit umgehen. Ist heute das Vorhandensein eines festen Kapitalstocks von 25000 beziehungsweise 50000 Euro wirklich entscheidend, um das erforderliche Vertrauen in das Vorhandensein ausreichender Haftungsmasse zu gewährleisten? Ähnliches gilt für die Regelungen zum Bezugsrechtsausschluss. Kapitalerhöhungen müssen schneller, kostengünstiger und mit geringerem Aufwand möglich sein. In Großbritannien wird die Grenze für den Bezugsrechtsausschluss aktuell von 10 auf 20% erhöht. Auch bei innovativen, international gängigen Instrumenten tut sich das deutsche Gesellschaftsrecht regelmäßig schwer (Beispiel Naked Warrants).
Auch das Beschlussmängelrecht wäre zu überprüfen. Derzeit genügt der Besitz einer Aktie zur Einleitung einer Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage. Dies birgt erhebliches Missbrauchspotenzial. Zwar haben Gesetzgeber und Rechtsprechung den schlimmsten Auswüchsen einen Riegel vorgeschoben. Die Beschlussmängelklage bleibt aber eine Quelle erheblicher Unsicherheit. Der gesetzliche Minderheitenschutz sollte daher stärker über Abfindungsrechte als über die Verhinderung des Zustandekommens rechtswirksamer Beschlüsse gewährleistet werden, um zu verhindern, dass eine Minderheit der Mehrheit ihren (Blockade-)Willen aufzwingt.
Nicht zuletzt (notarielle) Formerfordernisse schaffen bei uns hohes Vertrauen in die Registerpublizität und erleichtern den Rechtsverkehr. Aber ist die notarielle Form in jedem Fall erforderlich? Müssen Gesellschafter für eine Kapitalerhöhung zwingend beim Notar zugegen oder vertreten sein? Welche Anforderungen stellen wir an den Vertretungsnachweis? Benötigen wir wirklich noch Originalunterschriften und persönliche Anwesenheit? Die Einführung der notariellen Beurkundung beziehungsweise Beglaubigung mittels Videokommunikation zum 1. August 2022 und die qualifizierte elektronische Signatur mögen ein richtiger Schritt sein. Allerdings sind die Anforderungen nach wie vor sehr hoch. Die international übliche digitale Signatur beispielsweise mit „DocuSign“ erfüllt diese Anforderungen jedenfalls nicht.
Chance vertan
Das am 8. Juli verabschiedete Gesetz zur virtuellen Hauptversammlung (HV) ist ein Beispiel dafür, dass die Politik die Bedeutung des Gesellschaftsrechts für die Attraktivität des Standorts nach wie vor unterschätzt. Das deutsche Konzept der Publikums-HV war und ist internationalen Investoren kaum zu vermitteln und für die Unternehmen mit enormen Kosten und Rechtsrisiken verbunden. Dem ein Ende zu bereiten und die Hauptversammlung zu einer konzisen Versammlung zu machen, in der das Management Rechenschaft ablegt und effizient und rechtssicher die wichtigsten Beschlüsse gefasst werden, wäre im Interesse aller Stakeholder und einer echten Aktionärsdemokratie, die auch internationalen Investoren offensteht.
Trotz einiger Anpassungen in letzter Minute (Video- statt lediglich elektronischer Kommunikation zur Stellung von Anträgen, Möglichkeit der Begrenzung von Stellungnahmen im Vorfeld der Hauptversammlung auf ordnungsgemäß angemeldete Aktionäre, die Beschränkung von Fragen auf eine Höchstzahl) bleiben Zweifel, ob die virtuelle Hauptversammlung die Präsenzveranstaltung in der Praxis ersetzen wird. Durch die Übertragung der Präsenz-Hauptversammlung alter Prägung in die digitale Welt wurde eine Chance vertan, einen deutlichen Schritt in Richtung internationale Akzeptanz der deutschen Aktiengesellschaft zu gehen.
Zeit für Modernisierung
Strategiepapier und Eckpunkte adressieren einige der genannten Beispiele, aber längst nicht alle. Das deutsche Gesellschaftsrecht bedarf dringend einer umfassenden Modernisierung. Die Ansätze aber verdienen es, offen und intensiv diskutiert zu werden. Dabei sollte der Blick auch über die Grenzen gehen. Es wäre wünschenswert, wenn die Beteiligten in Politik, Wissenschaft und Praxis anders als bei der virtuellen Hauptversammlung gemeinsam einen wirklichen Modernisierungsschritt wagten und das Gesellschaftsrecht konsequent reformierten. Nur so können Unternehmen deutscher Rechtsform attraktiv für in- und ausländisches Kapital und im Land gehalten werden.
*) Dr. Lars-Gerrit Lüßmann ist Partner der Kanzlei Taylor Wessing in Frankfurt.