Europas Angriff auf die GAFAs
Von Andreas Heitker, Brüssel
Es geht um fairen Wettbewerb und um offene Märkte. Es geht um Regeln für soziale Netzwerke, Sharing-Plattformen, App-Stores, Messengerdienste, Online-Marktplätze oder auch -Reisedienste. Die EU-Kommission hat vor gut einem Jahr zwei Vorschläge auf den Tisch gelegt, die den Rechtsrahmen in der Online-Welt noch einmal gänzlich neu ziehen – sowohl für Unternehmen als auch für Privatpersonen. Das Gesetz über digitale Dienste (DSA) steht in der kommenden Woche im EU-Parlament auf der Agenda. Beim Gesetz über digitale Märkte, den Digital Markets Act (DMA), beginnen die EU-Gesetzgeber am Dienstag die Schlussverhandlungen. Geplant ist ein Abschluss noch in diesem Quartal. Die neuen Regeln, so der Plan, könnten damit schon im zweiten Halbjahr in Kraft treten.
Der DMA befasst sich vor allem mit Plattformen, die als digitale „Torwächter“ (Gatekeeper) im Binnenmarkt fungieren – auch weil es großen Tech-Konzernen als Quasi-Monopolisten gelungen ist, eigene digitale Ökosysteme aufzubauen, wie etwa Apple oder Google. EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton verweist deshalb auch gerne darauf, dass die Konzerne zum Teil schon so mächtig sind, dass sie als private Akteure selbst die Regeln bestimmen und als unumgängliches Zugangstor zwischen Unternehmen und Verbrauchern funktionieren können. Umso größer sind jetzt auch die Hoffnungen, die mit der neuen Regulierung verbunden ist: „Das ist ein Gesetzgebungspaket, das wir in dieser Härte so lange nicht hatten“, sagt Andreas Schwab, CDU-Europaabgeordneter und der zuständige Berichterstatter im EU-Parlament.
Auch Kartellrechtsexperten wie Michael Dietrich, Partner der Kanzlei Clifford Chance, sprechen von einem „mutigen ersten Schritt“, den die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen gegangen ist. „Sie war die erste Behörde weltweit, die einen so umfassenden Entwurf zur Regulierung der Marktmacht der großen Plattformen im digitalen Sektor vorgelegt hat“, sagt Dietrich im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.
Der Ausgangspunkt der neuen Gesetzgebung war die Erkenntnis, dass das heutige Kartellrecht einfach zu schwerfällig und zu unflexibel ist, um auf potenziell missbräuchliches Verhalten der großen Tech-Konzerne im Markt zu reagieren. Die jahrelangen Verfahren der EU-Wettbewerbsbehörde gegen Google, Amazon oder Facebook sprachen eine klare Sprache. Zugleich spielten viele Online-Plattformen heute eine zentrale Rolle im Leben der Bürger und Unternehmen „und sogar unserer Gesellschaft und Demokratie insgesamt“, betont EU-Kommissar Breton die Bedeutung der neuen Regeln.
Ziel des DMA ist nun, auch Start-ups und kleineren Plattformen im Wettbewerb eine Chance zu geben und zugleich die Rechte gewerblicher Nutzer der großen Plattformen besser zu schützen – zum Beispiel, indem die Gatekeeper die von ihren Nutzern erhaltenen Daten nicht mehr verwenden dürfen, um diesen Konkurrenz zu machen – wie dies etwa Amazon vorgeworfen wird. Sie dürfen ihre Nutzer auch nicht daran hindern, auf Dienste zuzugreifen, die sie möglicherweise außerhalb der Plattform erworben haben. Auch sollen im digitalen Bereich ganz andere Schwellenwerte für die EU-Fusionskontrolle eingeführt werden, um „Killer-Akquisitionen“ zu verhindern, die den Wettbewerb noch weiter ausbremsen.
Mit ihren Vorschlägen traf die Brüsseler Behörde offenbar den richtigen Ton. „Im bisherigen Gesetzgebungsprozess des DMA hat sich ein relativ großer politischer Konsens gezeigt“, hat auch Kartellrechtsexperte Dietrich beobachtet. Die Gesetzesvorschläge wurden vom Rat und EU-Parlament größtenteils unverändert gelassen – auch wenn es an einigen Stellen wichtige Änderungen gab. „Das war vor einem Jahr, als die Vorschläge auf den Tisch kamen, so nicht absehbar.“
80 Aufseher für die Big Techs
Insbesondere das EU-Parlament unter der Führung von Berichterstatter Schwab sprach sich an einigen Stellen für eine Verschärfung der Kriterien und eine Verkürzung der Fristen aus, um die Regeln noch effektiver zu machen. Die eigentlichen Vorschläge sahen vor, Unternehmen mit einem Jahresumsatz im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) von mindestens 6,5 Mrd. Euro und einer durchschnittlichen Marktkapitalisierung von mindestens 65 Mrd. Euro mit einzubeziehen. Der Konzern sollte zudem in mindestens drei EU-Staaten eine zentrale Rolle spielen, im Monat über 45 Millionen aktive Endnutzer in Europa oder 10000 aktive gewerbliche Nutzer im Jahr haben.
„De facto wird der DMA zunächst gegenüber den großen US-Digitalkonzernen, den sogenannten GAFAs (Google, Apple, Facebook, Amazon), zur Anwendung kommen, möglicherweise auch gegen Microsoft, wenn es um die Cloud-Services geht“, erklärt CliffordChance-Experte Dietrich. Im Kern sei das Gesetz aber offen, so dass in Zukunft auch andere Unternehmen erfasst werden könnten. „Dies könnte dann zum Beispiel auch für chinesische Plattformen gelten, die heute wohl noch zu wenig Nutzer im EWR haben.“
Ob die jeweiligen Unternehmen einen Gatekeeper-Status erhalten, entscheidet im Endeffekt die EU-Kommission. Andreas Schwab schätzt, dass die neuen Regeln auch für die gesamte Koordination der Brüsseler Behörde von erheblicher Bedeutung sind – nicht allein aufgrund der geplanten 80 zusätzlichen Stellen, die zur Durchsetzung des Digital Markets Act geschaffen werden. Nicht mehrheitsfähig im EU-Parlament war allerdings der Versuch, auch die nationalen Wettbewerbsbehörden mit einzubeziehen, um eine größere Durchschlagskraft zu bekommen. Laut Schwab hätte man so die Zahl der Mitarbeiter verzehnfachen können.
Ob der DMA Zähne hat, dürfte sich relativ schnell zeigen. Nach Inkrafttreten und Klärung des Gatekeeper-Status gelten unmittelbar umfangreiche Verhaltenspflichten. Erste Konsequenzen wie etwa Änderungen in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen für App-Entwickler oder private Nutzer könnten nach Einschätzung von Dietrich bereits 2023 sichtbar werden. „Ob auch die komplexeren Bestimmungen praktische Auswirkungen haben, wird sich zeigen, wenn insbesondere Wettbewerber versuchen, von ihren neuen Rechten Gebrauch zu machen.“
Auch die Folgen für Verbraucher bleiben noch abzuwarten. Verhindert der DMA vielleicht sogar, dass Dinge verkompliziert werden und damit digitale Dienste nicht mehr so störungsfrei wie heute funktionieren? Der Branchenverband Bitkom warnte kürzlich zudem vor einer Schwächung der IT-Sicherheit und des Datenschutzes. In den nun anstehenden Schlussverhandlungen muss wohl noch die ein oder andere Delle ausgebügelt werden.