Europas Tech-Wagniskapitalmarkt kühlt ab
kro Frankfurt
Der globale Konjunkturabschwung hat in der europäischen Tech-Start-up-Szene in diesem Jahr deutliche Spuren hinterlassen. Ob Investitionsvolumina, Bewertungen, Finanzierungsrunden oder die Anzahl neuer Einhörner − in sämtlichen Parametern, die die wirtschaftliche Entwicklung des Ökosystems beleuchten, ist es im Vergleich zum Rekordjahr 2021 zu einem Rückgang oder zumindest zu einer Normalisierung des zuvor teils stark überhitzten Marktes gekommen. Das zeigt der am Mittwoch veröffentlichte „State of European Tech“-Report des Londoner Wagniskapitalgebers Atomico, eine umfassende jährliche Bestandsaufnahme der europäischen Tech-Start-up-Welt.
„Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass es ein schwieriges Jahr war“, heißt es in den einleitenden Worten der Analyse. „Von dem entsetzlichen Krieg in der Ukraine, über die anziehende Inflation, Zinserhöhungen bis hin zur Energiekrise stehen wir vor dem härtesten makroökonomischen Umfeld seit der Finanzkrise 2008“, schreiben die Autoren Sarah Guemouri, Principal bei Atomico, und Tom Wehmeier, Partner des VC-Investors. Bis Ende Oktober seien vor dem Hintergrund im laufenden Jahr rund 400 Mrd. Dollar an Marktwert von börsennotierten und privaten Unternehmen vernichtet worden. Die Wachstumsraten der kommenden Dekade dürften bei weitem nicht mehr an das Tempo der vergangenen Jahre heranreichen.
Einhorn-Boom beendet
Die europäische Tech-Welt war alles andere als immun gegen die wirtschaftliche Flaute, heißt es in dem Bericht. Schlagzeilen über weitreichende Entlassungsrunden und ein Einbruch der Finanzierungsvolumen hätten das deutlich gemacht. In Deutschland hat die Kündigungswelle in diesem Jahr unter anderem das Kredite-Vergleichsportal Smava, den Schnelllieferdienst Gorillas oder den E-Scooter-Verleiher Tier Mobility erfasst. Gleichzeitig lag die Zahl neuer europäischer Einhörner mit 31 deutlich unterhalb des Wertes von 2021, als 105 neue Einhörner, also Start-ups mit einer Bewertung von über 1 Mrd. Dollar, das Licht der Welt erblickten.
Überraschend sei das nicht. Der Wert von 2021 war tatsächlich ungewöhnlich hoch und überstieg die Zahlen aus den Vorjahren um ein Vielfaches. Nun befinde sich die „Einhorn-Geburtenrate“ wieder auf dem typischen Niveau der vergangenen Jahre. Dabei stiegen in Deutschland dieses Jahr fünf Start-ups in die Einhorn-Liga auf: die Steuer-App Taxfix, die Sport-App One Football, die Gastro-App Choco, der Elektrogeräte-Vermieter Grover und der Online-Übersetzungsdienst DeepL.
Viel trockenes Pulver
Die Branche habe sich insgesamt als resilient erwiesen, schreibt Chris Grew, Partner bei der Kanzler Orrick. Denn die Investitionen, die sich laut der Analyse bis Ende des Jahres auf zusammengerechnet rund 85 Mrd. Dollar belaufen werden, liegen mit einem Rückgang von 18 % aus seiner Sicht nicht allzu weit entfernt von dem Rekordlevel aus 2021. Tatsächlich werde es sich damit sogar um den zweithöchsten Wert aller Zeiten handeln − ein Zeichen dafür, dass der Sektor in der vergangenen Dekade gereift sei.
Hinzu kommt, dass die Investoren weiter über viel Kapital verfügen, das darauf wartet, in passende Unternehmen gesteckt zu werden. In der Start-up-Szene ist hier von sogenanntem „Dry Powder“ die Rede, das sich Ende 2021 auf etwa 84 Mrd. Dollar summierte. Vor dem Hintergrund starker Fundraising-Aktivitäten bei gleichzeitig verlangsamter Anlageentscheidungen dürfte der Wert auch im laufenden Jahr ähnlich hoch oder höher ausfallen. „Diese erhebliche Summe könnte die Aktivitäten im kommenden Jahr antreiben“, schätzt Keiran Wilson, Director bei Lazard.
Die Studienautoren rechnen zwar auch damit, dass die Zahl der Tech-Börsengänge 2023 wieder steigen könnte − das aber wahrscheinlich nicht vor der zweiten Jahreshälfte. Die Unsicherheit an den Märkten hat sich zuletzt besonders deutlich im rückläufigen IPO-Geschehen widergespiegelt. So kam es in Europa und den USA in diesem Jahr gerade einmal zu drei Tech-IPOs mit einer Marktkapitalisierung von über 1 Mrd. Dollar. Im Jahr 2021 waren es 86. „Das hat mit Blick auf die Liquidität natürlich erhebliche Folgen für das gesamte Ökosystem − sowohl aus Sicht von jenen, die die Kapitalmärkte anzapfen, als auch für jene, die als existierende Aktionäre den Exit anstreben und ihre Kapitalgewinne verteilen oder woanders reinvestieren“, heißt es in der Studie.
Mit Blick nach vorn herrscht in der Szene dennoch weitgehende Zuversicht. 77% der mehr als 4000 von Atomico befragten Wagniskapitalgeber, Limited Partner, Gründer und politischen Entscheidungsträger sind mindestens so optimistisch für die Zukunft des europäischen Tech-Sektors wie noch vor zwölf Monaten. „Insider des Ökosystems sind in der Lage, zwischen den kurz- bis mittelfristigen Auswirkungen eines wirtschaftlichen Abschwungs und den längerfristigen Aussichten der Industrie zu unterscheiden“, so das Fazit der Autoren.
Wertberichtigt Seite 2