Für ZVEI ist kompletter Rückzug aus China nicht denkbar
Von Sebastian Schmid und Heidi Rohde, Frankfurt
„Wenn Deutschland oder Europa sagen würde, die Unternehmen müssten aufgrund der Menschenrechtssituation das gesamte China-Geschäft stoppen, hätten wir ein gigantisches Problem. Und zwar nicht nur als Branche, sondern die gesamte Gesellschaft“, erklärt ZVEI-Chef Wolfgang Weber im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Der Elektroindustrieverband kann die Aussage mit Zahlen untermauern. Eine Auswertung der Handelsbeziehungen zum Reich der Mitte durch den ZVEI zeigt, dass mit rund 71 Mrd. Euro die Hälfte des Volumens aller Importe aus China nach Deutschland 2021 auf die Elektroindustrie entfiel. Exportiert wurden auf der anderen Seite lediglich 25 Mrd. Euro. Das ist allerdings auch im globalen Maßstab nur leicht über dem Durchschnitt. Der chinesische Anteil am Weltelektromarkt beträgt mittlerweile über 40 % (siehe Grafik). „Für jeden in unserer Branche, der weltweit tätig ist, ist dieser Markt also absolut relevant. Und darauf wird sich jedes Unternehmen dann auch entsprechend ausrichten müssen“, erklärt Weber. „Ein kompletter Rückzug aus China wäre nicht denkbar.“
Auch wenn ein Rückzug nicht möglich scheint, werden Unternehmen ihre Abhängigkeit reduzieren, ist Weber überzeugt. „Diversifikation ist die Losung. Das bedeutet, China weiter im Fokus zu behalten, mit China auch gute Geschäfte zu machen und gleichzeitig Abhängigkeiten zu verringern, indem man diversifiziert bei Rohstoffen, Lieferketten und teilweise natürlich auch bei den Märkten.“
Zudem müsse sich die Branche darauf vorbereiten, die Compliance-Vorgaben infolge des neuen Lieferkettengesetzes, das 2023 kommt, einzuhalten. „Das wird anfangs nicht leicht sein, alle Lieferanten komplett zu durchleuchten und zu zertifizieren, aber dieser Aufgabe stellen wir uns natürlich.“ Wenn bei einem Lieferanten Missstände aufgedeckt würden, müssten diese unternehmensseitig abgestellt werden. „Aber es geht nicht, dass die Politik die heiße Kartoffel einfach den Unternehmen zuwirft.“ Bei Russland etwa habe der Staat Sanktionen erlassen und damit klare Vorgaben gemacht, welche Geschäfte zulässig sind und welche nicht. Hier gelte der Primat der Politik, sagt Weber. Zugleich bleibt die europäische Industrie hochgradig auf China angewiesen.
Jahrelange Abhängigkeit
Die Initiativen in Europa, sich in verschiedenen Bereichen eigenständiger aufzustellen, lobt Weber zwar. Da sei schon einiges passiert: Beispielsweise das zweite IPCEI (Important Project of Common European Interest) für Mikroelektronik, der EU Chips Act, das IPCEI für Batterien. „Das sind Entscheidungen, die wir unterstützt haben und die dazu dienen, Produktion und Teile der Wertschöpfung zurück nach Europa zu bringen“, so Weber. „Ich gehe fest davon aus, dass 2023 die ersten Baumaßnahmen aufgrund neuer Investitionsentscheidungen beginnen werden.“ Allerdings brauche es im Halbleiterbereich drei bis vier Jahre, eine Produktionsanlage vom Grund auf aufzubauen. Mit zusätzlichen neuen Kapazitäten sei daher voraussichtlich 2026 bis 2027 zu rechnen.
Für die deutsche Elektroindustrie heißt das: „Sollte es heute oder morgen zu einem Ausfall Chinas kommen, ließe sich das nicht einfach lösen. Die Kapazitäten sind global verteilt. Neue Kapazitäten lassen sich nicht einfach aus dem Boden stampfen.“ Für China sei die Lage aber auch nicht ohne Risiken. Es gebe durchaus gegenseitige Abhängigkeiten. „Auch dortige Chiphersteller sind nicht autark und etwa auf Lieferungen von Maschinen weltweit führender europäischer Chipindustrieausrüster angewiesen“, betont Weber mit Blick auf Unternehmen wie ASML oder Trumpf.
Wirklich unvermeidbare Abhängigkeiten seien im Rohstoffbereich derweil seltener, als es mitunter den Anschein habe. Kobalt, dessen Vorkommen im Kongo konzentriert ist, sei so ein Beispiel. Generell gelte aber, dass „Rohstoffsicherheit nicht allein in Europa erzielt werden kann“. Hierfür brauche es den Handel auch mit Regionen, die andere Gesellschaftssysteme haben.
Gar nicht so seltene Erden
Manche Abhängigkeit sei derweil auch hausgemacht. „Seltene Erden sind, anders als der Begriff suggeriert, gar nicht selten. Vielmehr haben sich Deutschland und Europa vor Jahrzehnten entschieden, diese Rohstoffe nicht mehr lokal abzubauen, sondern ihre Gewinnung auszulagern“, so Weber. „Die Frage ist, sind wir bereit, in Deutschland, Europa oder auch den USA solche Produktionen – auch mit den entsprechenden Umweltauflagen – wieder aufzubauen, als den Abbau weitgehend China zu überlassen?“ Als China 2008 von einem auf den anderen Tag Exportrestriktionen für Seltene Erden angekündigt habe, sei eine deutsche Rohstoffagentur gegründet worden. Sie hatte zum Ziel, andere Produktionsstätten und Lieferanten zu identifizieren. Als China seine Exportrestriktionen sehr schnell wieder aufgehoben habe, sei auch die Arbeit der Rohstoffagentur schnell wieder eingestellt worden. „Mit dem Wissen von heute war dies ein voreiliger Schritt. Der russische Angriffskrieg lehrt uns diesbezüglich einiges.“
Künftig Kreislaufwirtschaft
Eine Alternative zu lokalem Rohstoffabbau oder dem Import sei die Kreislaufwirtschaft. Allerdings benötige diese bei wichtigen Produktkategorien noch viele Jahre Vorlauf. „Das gilt etwa für Batterien. Diese müssen erst in großer Zahl neu produziert werden. Und das braucht eben Rohstoffe. An Recycling im industriellen Maßstab ist erst in 10 bis 15 Jahren zu denken.“ Bis dahin müssten die Kapazitäten aufgebaut werden.
Derzeit bleiben die Abhängigkeiten indes mannigfaltig. Die Zahl der Arbeitsplätze, die in der Elektroindustrie direkt an China hängen, taxiert der ZVEI zwar nur auf 52 000. Sekundäreffekte seien aber nicht eingerechnet. „Dann kämen wir tatsächlich in eine andere Dimension.“ Besonders hoch ist die Abhängigkeit derzeit in den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnik mit negativen Außenhandelssalden in jeweils zweistelliger Milliardenhöhe im vergangenen Jahr. Weber will aber auch hier nicht ausschließen, dass sich die Gewichte zwischen den Regionen nochmals verschieben könnten. Dies sei aber auch eine Frage der Geopolitik, insbesondere zwischen den Mächten USA und China.
Allerdings zeigten Greenfield-Investitionen chinesischer Unternehmen , dass auch auf chinesischer Seite Interesse bestehe, an der Balance zu arbeiten.