Lars Brzoska

Jungheinrich bislang ohne Abriss bei Aufträgen

Der Intralogistikkonzern Jungheinrich sieht vier Monate nach Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs noch keinen Abriss bei den Aufträgen. Der Kion-Rivale steckt wohl auch 2023 mehr Mittel in die Vorräte.

Jungheinrich bislang ohne Abriss bei Aufträgen

Carsten Steevens.

Herr Dr. Brzoska, als Sie Ende März eine Gewinnwarnung für das laufende Geschäftsjahr abgaben, dauerte der Russland-Ukraine-Krieg gerade einen Monat an. Inwiefern haben sich damalige Einschätzungen der Folgen inzwischen verändert?

Grundlegende Einschätzungen haben sich seit dem Kriegsbeginn nicht geändert. Der Krieg verursacht weiterhin ein sehr hohes Maß an Unsicherheit, was einige Unter­nehmen veranlasst, Investitionen zurückzustellen. Wir können aber feststellen, dass es bislang keinen Abriss bei den Aufträgen gibt – anders als nach Beginn der Corona-Pandemie, als im Frühjahr 2020 plötzlich 40% der Ordereingänge fehlten.

Was heißt das?

Unsere Kernklientel, das heißt Unternehmen vor allem aus den Bereichen Einzelhandel, Großhandel, Logistik und auch Pharmazeutik, ordert weiterhin. Auch der E-Commerce läuft sehr gut. Die Lage in der Industrie ist hingegen etwas schwieriger. Infolge der stark erhöhten Stahlpreise und auch durch die hohen Preise im Elektroniksektor verteuern sich Projekte und Equipment. Für einige Industrieunternehmen sind Investitionen zum jetzigen Zeitpunkt nicht rentabel. Wenn sie es sich leisten können, verschieben sie diese.

Ohne die Prognose ändern zu müssen, können Sie doch sagen, ob Sie optimistischer oder pessimistischer gestimmt sind als vor drei Monaten.

Positiv ist, dass Elektronikbauteile auch unter den aktuell sehr schwierigen Rahmenbedingungen – wenngleich begrenzt – verfügbar sind. Wir bekommen gegenwärtig immer noch Teile, um unsere Kunden zu bedienen. Das sah vor einigen Monaten noch etwas schwieriger aus. Und mit jeder Lieferzusage nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass Produktionsunterbrechungen weiterhin ausbleiben. Positiv sind momentan auch die Stahlpreisprognosen. Unabhängige Marktbeobachter gehen für die kommenden Monate von sinkenden Stahlpreisen aus.

Ist der Höhepunkt der Materialkosten bei Stahl erreicht?

Externe Prognosen gehen davon aus, dass wir in der nächsten Zeit wahrscheinlich keine noch höheren Stahlpreise sehen werden. Die Nachfrage der Industrie nimmt ja auch ab, was regelmäßig zu Preisrückgängen bei Vormaterialien führt.

Was erwarten Sie bei den Energie- und Logistikkosten?

Veränderungen bei den Energiekosten treffen in der Lieferkette zuerst Produzenten von Stahl und Stahlkomponenten, die ihre geänderten Preise dann an uns weitergeben. Der Höhepunkt bei diesen indirekten Kosten ist aber aus heutiger Sicht überschritten. Verglichen mit den Stahl- und Rohstoffpreisen oder den Energiekosten sind die gestiegenen Logistikkosten für uns nachgelagert. Natürlich sind wir auch betroffen, wenn Schiffsabfertigungen in Häfen und Inlandstransporte nicht plangemäß funktionieren. Logistikexperten zufolge werden die globalen Lieferkettenprobleme auch im gesamten kommenden Jahr noch andauern.

Wie viele Mitarbeiter kümmern sich bei Jungheinrich um Lieferkettenmanagement?

Rund 50 Mitarbeitende.

Seit wann?

Seit Beginn der Coronakrise. Wir müssen täglich intensiv daran arbeiten, die notwendigen Bauteile zu bekommen.

Produktionsstillstände gab es auch bei Ihnen.

Keine spürbaren. Betroffen war kurz nach Beginn der Pandemie, also vor rund zwei Jahren, unser Werk im bayrischen Moosburg. Aber auch nur eine Woche lang.

Wie stabil ist die Produktion denn im Augenblick?

Stabil ist bei Zulieferungen, die vage sind und kurzfristig anders als geplant verlaufen können, nichts. Mit diesen ungünstigen Rahmenbedingungen kommen wir aus meiner Sicht aber als Unternehmen sehr gut zurecht. Ich bin mit dem aktuellen Produktionsniveau zufrieden.

Wie sieht es mit der Werksauslastung konkret aus?

Über die Auslastung einzelner Werke äußern wir uns nicht. In Anbetracht der aktuellen Entwicklungen liegt es aber nahe, dass wir daraus resultierend noch Luft nach oben hätten, sprich die Produktion könnte höher sein, wenn Material zuverlässiger zur Verfügung stünde. Wie beim Auftragseingang erwarten wir in unserer Prognose, dass die Produktionsstückzahlen in diesem Jahr unter dem Niveau des vergangenen Jahres liegen werden.

Wie entwickelt sich das Orderaufkommen?

Details zum zweiten Quartal werden wir wie jedes Jahr im August bekannt geben. Klar ist: Je stärker Preise steigen, desto geringer wird tendenziell die Nachfrage. Wenn es zu Preiserhöhungen kommt, gibt es Vorzieheffekte und eine temporär schwächere Nachfrage im Anschluss.

Fällt es Ihnen schwerer, höhere Preise durchzusetzen als noch vor drei Monaten?

Allen Marktteilnehmern ist bewusst, welche Ursachen für die derzeitigen Preissteigerungen verantwortlich sind. Das betrifft ja nicht nur uns.

Nach dem Anstieg des Auftragseingangs um fast 29% auf das Rekordniveau von 4,87 Mrd. Euro im vergangenen Jahr stellen Sie für 2022 bislang einen Rückgang von rund 10% in Aussicht. Könnten Sie das näher erläutern?

Zunächst ist zu sagen, dass der aktuell erwartete Rückgang beim Auftragseingang inklusive unserer Maßnahmen für den russischen Markt für uns nicht dramatisch ist. Dass es 2022 keinen erneuten Boom geben wird, der uns wie im vergangenen Jahr unerwartet kräftig über alle Regionen und Sparten hinweg beflügelt, ist kaum verwunderlich. Der Rückgang resultiert vor allem aus dem Sektor der produzierenden Industrie. Ein Beispiel: Der Trend hin zu Automatiksystemen ist nachhaltig, doch durch die Verteuerung des Stahls rechnen sich Investitionen in automatisierte Lager, in die Tonnen von Stahl verbaut werden, derzeit nicht wie gewünscht; die Amortisationszeiten verlängern sich deutlich. Gerade bei Unternehmen aus der Industrie kommt es durch Preissteigerungen und lange Lieferzeiten auch zu einer Abflachung der Nachfrage nach Neufahrzeugen. Weiterhin gut laufen das Mietgeschäft, das Gebrauchtgerätegeschäft sowie der Bereich After Sales.

Der Geschäftsrückgang lässt sich durch Preissteigerungen nicht vollständig auffangen. Inwiefern können Sie sich durch Absicherungsgeschäfte schützen?

Kostensteigerungen aufgrund exogener Faktoren können zur Erhaltung eigener Margen immer nur durch Preiserhöhungen, Kostensenkungen an anderer Stelle oder wenn möglich Hedging – bzw. eine Kombination dieser Maßnahmen – aufgefangen werden. Das gelingt in unterschiedlichen Märkten unterschiedlich gut.

Wie verläuft der Vorratsaufbau?

Wir haben unsere Working-Capital-Quote recht erfolgreich reduziert. Als wir unser Allzeittief erreicht hatten, mussten wir im Verlauf der Pandemiezeit feststellen, dass wir deutlich mehr Material benötigen – zunächst waren es Elektronikbauteile, jetzt sind es auch viele andere Teile. Für uns war und ist wichtig, dass die Produktion läuft. Insofern haben wir erhebliche Beträge ins Working Capital gesteckt, also in die Vorräte. Dadurch kommen wir nun auf eine höhere Working-Capital-Quote, auf höheren Cash-Bedarf und -Bindung.

Wie lange dauert die Aufbauphase an?

Wir haben Vorräte aufgebaut, die uns durch das laufende Jahr bringen werden. Wir bereiten bereits unseren Plan für 2023 vor. Die Folgen der Pandemie und des Russland-Ukraine-Kriegs werden uns auch im kommenden Jahr beschäftigen, dafür müssen wir rechtzeitig disponieren.

Eine höhere Cash-Bindung heißt?

Geringere Werte beim Free Cashflow. Das hat sich bereits im ersten Quartal gezeigt. Es gibt einen höheren Mittelbedarf, und es ist bei der Finanzplanung zu bedenken, dass wir möglicherweise auch 2023 noch einen höheren Cash-Bedarf für die Vorratshaltung aufweisen werden. Da wir aber an unseren Prozessen, am Forderungsmanagement, am Bestandsmanagement gearbeitet haben, sind wir im operativen Geschäft weiterhin gut unterwegs. Sobald sich auf dem Beschaffungsmarkt Normalität einstellt, werden wir auch das Working Capital wieder reduzieren.

Sehen Sie im Moment Ihre mittelfristigen Ziele in Gefahr? Sie haben sich im vergangenen Herbst ja noch mal optimistischer gezeigt, verglichen mit der Ankündigung Ende 2020.

Ich bin weiterhin zuversichtlich. Im vorigen Herbst wusste niemand, dass ein Krieg in Europa ausbricht. Ob wir die Ziele erhöht hätten, wenn der Krieg damals schon begonnen hätte, ist spekulativ. Wir sehen uns aktuell weiterhin auf Kurs, die bis 2025 gesteckten Ziele zu erreichen. Wir investieren in strategische Maßnahmen. Wir bauen weiterhin Personal auf, wenn auch nicht ganz so schnell und deutlich, wie wir es ursprünglich geplant hatten. Aber für unsere strategischen Geschäftsfelder machen wir das weiterhin. Wenn sich 2023 die Lage verbessert, sind wir auf der Spur, unsere Ziele zu erreichen.

Werden Sie nicht gebremst, wenn Sie sich stärker um den Vorratsaufbau bemühen müssen?

Nein. Wir sind ein äußerst finanzstarkes Unternehmen. Die Bilanz war noch nie so stark wie heute. Das heißt nicht, dass wir nicht darauf achten, wie wir was finanzieren. Aber wir verfügen über genügend Eigenmittel und eine herausragende Bonität. Viele Banken würden gerne mehr mit uns machen.

Unter welchen Bedingungen würden Sie die Angebote der Banken denn nutzen?

Wenn wir einen guten Verwendungszweck haben, dann werden wir auch die Mittel erhalten. Aber wir werden nicht sagen: Weil wir die Möglichkeit haben, mehr Mittel zu bekommen – Stichwort Leveraging –, müssen wir uns einen Zweck überlegen. Für uns steht immer im Vordergrund: Wofür benötigen wir Kapital, und dann natürlich: wie viel? Bislang waren Mittel für bestimmte Investitionen kein Problem. Wir haben beispielsweise jüngste Akquisitionen aus Eigenmitteln finanziert.

Sie haben für 2021 mit 68 Mill. Euro eine Rekorddividende ausgeschüttet. In Anbetracht der größer gewordenen Unsicherheiten: Warum nicht mehr Vorsicht an dieser Stelle?

Uns war klar, dass wir nach dem erfolgreichsten Jahr der Firmengeschichte in allen Finanzkennzahlen unsere Anteilseigner an dem Erfolg mit einer ordentlichen Dividende teilhaben lassen. Wir lagen zwar mit der Dividende in absoluten Zahlen deutlich über den bisherigen Ausschüttungen, haben uns aber bei der Ausschüttungsquote weiterhin in unserem Zielkorridor zwischen 25% und 30% bewegt – und das noch nicht einmal am oberen Ende. Insofern war es keine Frage, ob wir den Zielkorridor nicht anstreben sollten.

Es hätte mit Verweis auf die großen Unsicherheiten ein Signal sein können.

Für unsere Vorzugsaktionäre war die höhere Dividende wichtig. Wir haben positive Reaktionen erhalten. Wir sind ja auch nicht der dividendenstärkste Titel. Es gibt andere, die mehr ausschütten. Insofern wäre es nicht richtig gewesen, nach dem besten Geschäftsjahr die Ausschüttung zu reduzieren.

Wie wichtig ist Dividendenkontinuität für die Wahrnehmung von Jungheinrich am Kapitalmarkt?

Sie hat Einfluss auf den Börsenkurs, aber nicht den größten. Was das Allzeithoch unserer Aktie im vergangenen Jahr gezeigt hat: Man traut uns inzwischen zu, viel profitabler zu werden. Man nimmt uns ab, dass wir im Automatik-Bereich und in den Zukunftstechnologien deutlich stärker geworden sind und werden. Es wird wahrgenommen, dass wir uns stark an der Verzinsung des eingesetzten Kapitals und künftig auch an einer Free-Cashflow-basierten Kennzahl orientieren. Das sind wesentliche Treiber des Börsenwerts.

Die Jungheinrich-Aktie hat sich seit ihrem Allzeithoch bei gut 47 Euro im April 2021 auf unter 23 Euro halbiert. Spüren Sie, dass der Kapitalmarkt die relative Performance honoriert?

Ich kann nachvollziehen, dass kurzfristig orientierte Anleger aus der Aktie rausgehen, weil die Industrie in einem unsicheren wirtschaftlichen Umfeld derzeit nicht so attraktiv erscheint. Ob eine Halbierung des Unternehmenswertes angemessen ist, darüber kann man streiten.

Jungheinrich konnte gerade bei der jüngsten Indexüberprüfung durch die Deutsche Börse vermeiden, gut ein halbes Jahr nach Wiederaufnahme aus dem MDax abzusteigen.

Ja, das war knapp. Unser Markt funktioniert, wir nehmen in diesem Markt eine sehr gute Position ein, und wir haben in den vergangenen Jahren nachgewiesen, dass wir mit Krisen gut umgehen können.

Nach Ausbruch des Russland-Ukraine-Kriegs hat Jungheinrich einen Exportstopp für Neu- und Gebrauchtgeräte sowie Ersatzteile nach Russland und Belarus beschlossen. Welche Relevanz hat das Geschäft in der Krisenregion für Ihr Unternehmen?

Der Umsatzanteil unseres Geschäfts in Russland beträgt 4%, in der Ukraine unter 1%. Beide Einheiten sind profitabel. Deshalb ist es auch rein wirtschaftlich betrachtet sehr schade. Wir müssen aber aus wirtschaftlicher Sicht Vermögenssicherung betreiben. Gleichwohl arbeitet unser lokales Team in Russland mit rund 600 Mitarbeitenden noch mit den Mitteln, die es hat, weiter. Nach vornhin arbeiten wir an Szenarien, die abhängig davon sind, wie Russland sich verhält.

Denken Sie über eine Auflösung oder einen Verkauf des Geschäfts nach?

Derzeit betreibt eine 100-prozentige Tochtergesellschaft von Jungheinrich das Russland-Geschäft. Ob und welche weiteren Schritte wir gehen werden, wird regelmäßig geprüft.

In Politik und Wirtschaft wird intensiver über China als Zukunftsstandort diskutiert. Gibt es eine kritischere Sicht von Jungheinrich auf das Land und auf Investitionen in diesen Markt?

Eine veränderte Sichtweise auf ­Chi­na hatten wir schon vor Beginn des Russland-Ukraine-Krieges eingenommen. Als wir im vorvergangenen Jahr unsere Strategie 2025 erstmals präsentierten, war China als größter Einzelmarkt der Welt für uns noch ein Prio-1-Markt. Die danach deutlich verschlechterten Rahmenbedingungen haben allerdings zu einem Umdenken geführt. Restriktionen von Regierungsseite, das Hinausdrängen westlicher Unternehmen, die Bevorzugung von lokalen Spielern, Repressalien im wirtschaftlichen Umfeld und Probleme bei der Datensicherheit haben uns 2021 – also vor Beginn des Kriegs in der Ukraine – dazu bewogen, China nicht mehr als wichtigsten Markt außerhalb Europas anzusehen. Das sind nun die USA.

Zwei von zwölf Werken weltweit betreiben Sie in China. Inwiefern sind Werksschließungen oder -verlagerungen in andere Länder für Jungheinrich eine Option?

In China bestehen derzeit je ein Werk von Jungheinrich und dem 2015 von uns übernommenen Automatiksystemanbieter Mias. Es gibt derzeit keine Pläne, diese Aufstellung zu ändern.

Sie streben an, den außereuropäischen Umsatzanteil bis 2025 auf 20% von 13% im vergangenen Jahr zu erhöhen. Wie soll das gelingen?

Es geht schon rein rechnerisch nur mit einer Akquisition. Organisches Wachstum würde vor allem auch innerhalb der kurzen Zeitspanne nicht ausreichen. Das war uns schon klar, als wir China noch als wichtigsten Markt außerhalb Europas betrachteten.

Also dann ein Zukauf in den USA?

Wenn wir etwas Passendes finden – ja. Das 20-Prozent-Ziel ist wahrscheinlich das ambitionierteste Ziel, das wir uns im Rahmen der Strategie 2025 gesetzt haben.

In welchem Bereich kommt die Akquisition in Betracht?

Automatik, Robotik, Software. Wir wollen uns noch mehr als in der Vergangenheit von unserem Wettbewerb differenzieren. Wenn es zu strategischen Allianzen, Beteiligungen oder auch zu Akquisitionen kommt, muss es um Kompetenzen gehen, die uns am Markt einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.

Welche Summe würden Sie für eine Einzelakquisition in die Hand nehmen wollen oder können?

Da stehen uns durchaus nennenswerte Ressourcen zur Verfügung. Das ist aber eine Einzelfallentscheidung.

Ist 2022 etwas zu erwarten?

Wir haben im Augenblick keine Hot Targets auf der Liste. Manchmal ergibt sich etwas sehr schnell. Unsere letzte Akquisition haben wir in drei Monaten vollzogen. Aktuell halte ich es aber für eher unwahrscheinlich, dass wir 2022 einen weiteren, großen Zukauf vereinbaren werden.

Das Interview führte

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