Schnelllieferdienste lassen es langsamer angehen
Reuters Berlin
Ihre Rucksäcke und Taschen sind schwarz, lila-gelb oder pink und sie rasen auf Fahrrädern und Elektrorollern durch Berlin, London und New York. Schnelllieferdienste wie Gorillas, Getir oder Flink wetteifern um die Gunst der Kunden, die sich in kürzester Zeit Lebensmittel vom Kurier bringen lassen wollen. Dafür benötigen sie schnelle Fahrer, viele kleine Lager und gute Apps mit interessanten Angeboten. Das verschlingt Millionen, die Investoren wegen der Wachstumsaussichten bisher auch bereitwillig zur Verfügung gestellt haben.
Doch es hat sich einiges geändert: Essenslieferdienste sind nicht mehr die Börsenlieblinge, die sie mal waren, Kapital wird mit den erwarteten Zinserhöhungen der Notenbanken nicht mehr so billig zu haben sein, die hohe Inflation und der Krieg in der Ukraine dämpfen die Konjunktur. Die milliardenschweren Start-ups müssen umdenken und ihre aggressiven Expansionsstrategien anpassen. „Wir fokussieren uns jetzt auf die bestehenden Märkte, auch um die Profitabilität zu erreichen“, sagt Gorillas-Finanzchef Elmar Broscheit.
Fast alle Firmen würden derzeit ihre Finanzierungsrunden aufschieben und auch Personal entlassen, um die Kosten in den Griff zu bekommen und Zeit zu gewinnen, beschreibt Analyst Clément Genelot von der Investmentbank Bryan, Garnier & Co. die neue Strategie. Er begründet die Entwicklung mit zunehmenden Zweifeln daran, dass jemals die Gewinnschwelle erreicht wird, und der Sorge, dass die jetzigen Bewertungen bereits zu hoch sind.
Um überhaupt in Richtung schwarze Zahlen zu kommen, müssten Kunden pro Bestellung mehr Geld ausgeben, die Liefergebühren erhöht und die Auslastung einzelner Standorte verbessert werden, analysieren die Experten vom Beratungsunternehmen Alvarez & Marsal.
Einer der Dienste, der bereits Konsequenzen aus dem Kostendilemma ziehen musste, ist Jokr. Das Berliner Start-up hat dem österreichischen und dem polnischen Markt den Rücken gekehrt und konzentriert sich auf Lateinamerika und die USA. „Das war eine Frage der Fokussierung“, sagt Firmenchef Ralf Wenzel, der in der Vergangenheit für den japanischen Technologieinvestor Softbank gearbeitet hat.
Erst im Dezember war Jokr zum Einhorn aufgestiegen, später als Getir, Gorillas und Flink. „Das Geld aus unserer jüngsten Finanzierungsrunde ist noch nicht aufgebraucht. Da sind noch hunderte Millionen offen“, sagt Wenzel.
Diese will er nicht mit vollen Händen ausgeben, sondern den Weg in die schwarzen Zahlen wegen der besseren Kostenstruktur in Lateinamerika aufzeigen: „In Lateinamerika erzielen wir bereits positive Deckungsbeiträge. Unser Ziel ist es, in zwei bis drei Monaten das auch einschließlich des US-Geschäfts zu schaffen. Damit wären wir der erste Lebensmittellieferdienst, der das erreicht.“
Getir sammelt Geld ein
Auch Gorillas bemüht sich inzwischen, den Cashburn unter Kontrolle zu bringen. „Wir wollen jetzt unser Kerngeschäft, die Lager, profitabel bekommen. Wenn wir zeigen, dass wir das stringent verfolgen, werden wir auch weiter einen guten Zugang zu Kapital haben“, sagt Broscheit, der lange für Macquarie gearbeitet hat und im vorigen Jahr den Einstieg des Dax-Konzerns Delivery Hero bei Gorillas mitdirigierte.
Über fehlendes Geld muss sich Getir aus der Türkei erstmal keine Sorgen machen. Die Firma hat erst Mitte März fast 770 Mill. Dollar bei Investoren eingesammelt und wird seither mit 12 Mrd. Dollar bewertet – etwa viermal so hoch wie Gorillas und Flink aus Deutschland. Doch auch das 2015 gegründete Unternehmen, das sich selbst als Pionier der Schnelllieferbranche bezeichnet, will es nun langsamer angehen lassen. „Dieses Jahr konzentrieren wir uns darauf, in den Märkten zu wachsen, in denen wir bereits präsent sind“, sagt Europachef Turancan Salur. Aktuell ist Getir in neun Ländern aktiv – sieben in Europa sowie die Türkei und die USA.
Um die Dominanz in Großbritannien auszubauen, übernahm Getir den Rivalen Weezy, und Gorillas schnappte sich kürzlich den französischen Schnelllieferdienst Frichti. Viele Experten gehen davon aus, dass mittelfristig eine Konsolidierungswelle anrollt. Die Vielzahl der aktuellen Anbieter werde nicht überleben können, heißt es bei Alvarez & Marsal. Analyst Genelot ist sich aber sicher, dass uns die Schnelllieferdienste erhalten bleiben. Kunden hätten in der Corona-Krise ihren Gefallen daran gefunden, Waren so schnell und einfach wie möglich geliefert zu bekommen. Von dieser Entwicklung wollen auch Nischenanbieter wie der Lieferdienst für Halal-Lebensmittel, Get Halal, oder Apotheken-Lieferdienste wie Mayd profitieren.