Finanzierung

Start-ups entdecken Vorzüge von Fremd­kapital für sich

Fremdkapital hatte in der Start-up-Szene lange einen schlechten Ruf – und das nicht nur, weil der Zugang vielen Nachwuchsfirmen verschlossen blieb. Doch das ändert sich gerade, und auch in Deutschland nutzen immer mehr Start-ups die Vorzüge von Fremdkapital.

Start-ups entdecken Vorzüge von Fremd­kapital für sich

Von Stefan Paravicini, Berlin

Deutschen Nachwuchsfirmen fließt in diesem Jahr so viel Risikokapital zu wie noch nie. Auch diese Woche startete fast schon selbstverständlich mit neunstelligen Finanzierungsrunden für zwei Start-ups aus Berlin. Der Elektroroller-Verleih Tier Mobility meldete eine 200 Mill. Dollar schwere Runde, mit der das Unternehmen seine Bewertung innerhalb eines Jahres auf 2 Mrd. Dollar verdoppelte. Das Fintech Billie, ein Factoringspezialist, ließ mit einer 100-Mill.-Dollar-Runde aufhorchen und schraubte die Bewertung auf 640 Mill. Dollar.

Interesse von Banken wächst

Noch nicht ganz so selbstverständlich wie große Runden und steigende Bewertungen ist bei deutschen Start-ups der Einsatz von Fremdkapitalinstrumenten im großen Stil. Doch ihre Bedeutung nimmt zu: Tier Mobility, die sich erst Anfang Juni 60 Mill. Dollar Kredit im Rahmen einer Asset-Backed Credit Facility bei Goldman Sachs beschafft hat, kündigte am Montag an, dass die jetzt abgeschlossene Runde Teil einer „breiteren Aufnahme von Fremd- und Eigenkapital“ sein wird. „Wir befinden uns derzeit in Gesprächen, weiteres Fremdkapital zur Finanzierung der Investitionen in unsere Fahrzeugflotte aufzunehmen“, sagte CFO Alex Gayer auf Nachfrage. Die mit Goldman vereinbarte Fazilität könne ebenfalls erweitert werden. Er beobachte ein wachsendes Interesse von Banken an Fremdfinanzierungen für schnell skalierende europäische Start-ups wie Tier Mobility, sagte Gayer.

Auch Billie verkündete am Montag nicht nur die Aufnahme von frischem Eigenkapital, sondern zurrte gleich noch eine Kreditlinie im Umfang von 200 Mill. Dollar fest, die von einem Bankenkonsortium unter der Führung von VVRB (Vereinigte Volksbank Raiffeisenbank eG) gestellt wird. „Bei einer durchschnittlichen Forderungslaufzeit von 30 Tagen können wir so weit über 2 Mrd. Dollar pro Jahr finanzieren“, erklärt Billie-Mitgründer Matthias Knecht mit Blick auf das Geschäft mit der Finanzierung von „Buy now pay later“-Angeboten für Geschäftskunden und berichtet von derzeit guten Zugangsmöglichkeiten zu Fremdkapital. „Dabei kommen einige Dinge zusammen: ein günstiges Refinanzierungsumfeld, in dem Banken nach hoch diversifizierten Anlageklassen su­chen, ein exzellentes Risikomanagement seitens Billie sowie ein Gründer- und Managementteam, welches seit vielen Jahren im Sektor arbeitet“, sagt Knecht.

An der neuen Kreditlinie für Billie wirkt unter anderem die Hamburger Varengold Bank mit, die in den vergangenen Jahren schon an anderer Stelle reichlich Erfahrung mit Fremdkapital für Start-ups gesammelt hat. In insgesamt fünf Finanzierungen stellten die Hamburger dem Berliner Elektronik-Verleih Grover nach Angaben des Informationsdienstes Crunchbase insgesamt 250 Mill. Dollar Fremdkapital zur Verfügung, angefangen von 4 Mill. Dollar in der ersten Debt-Finanzierung 2017 bis 195 Mill. Dollar Anfang des vergangenen Jahres. Grover, die unter anderem Smartphones, Notebooks oder Spielkonsolen an Konsumenten und Firmenkunden vermietet, ist so etwas wie der König der Fremdkapitalaufnahme unter den deutschen Start-ups: Fasanara Capital aus London hat Ende Juli 850 Mill. Euro im Rahmen einer Asset-Backed Facility zur Verfügung gestellt, bei der die von Grover vermieteten Geräte beliehen werden. „Der Zugang zu Fremdkapital wurde für uns über die letzten Monate signifikant einfacher. Für Fremdkapitalgeber ist das Grover-Geschäftsmodell hochinteressant, was es uns ermöglicht hat, dieses Jahr bereits Fremdkapitalfinanzierungen über insgesamt 1,25 Mrd. Dollar Kreditrahmen abzuschließen“, sagt CFO Thomas Antonioli.

Doch nicht nur kapitalintensive Geschäftsmodelle wie Tier Mobility oder Grover, die ihren Kreditgebern den Wiederverkaufswert von Elektrorollern und Unterhaltungselektronik als Sicherheit geben, oder ein Fintech wie Billie, das Investoren ein interessantes Kreditportfolio zu bieten hat, nutzen die Vorzüge von Fremdkapital für sich. Getyourguide, eine Berliner Online-Vermittlungsplattform für Sightseeing und Urlaubserlebnisse, hat nach überstandener Pandemie in diesem Frühjahr keine Venture-Runde gedreht, sondern 100 Mill. Dollar Fremdkapital bei einem Bankenkonsortium unter der Führung von Unicredit eingesammelt. Die Deutsche Bank, KfW, Citi und die Silicon Valley Bank sind ebenfalls mit an Bord.

Der Zugang zu Fremdkapital spiegele das gestiegene Vertrauen der Investoren in das Geschäftsmodell wider, sagt CFO Nils Chrestin auf Anfrage. „Neben dem offensichtlichen Vorteil, die bestehenden Investoren nicht zu verwässern, profitieren wir von einem vorteilhaften Zinsumfeld und können uns zudem im Fremdkapitalmarkt etablieren. Dies wird uns mittelfristig wesentlich mehr Flexibilität bei der Liquiditätsplanung ermöglichen“, sagt der Finanzchef von Getyourguide, die spätestens seit der knapp 500 Mill. Dollar schweren Finanzierungsrunde unter Führung von Softbank im Frühjahr 2019 als ein Kandidat für einen Börsengang gilt.

Der E-Commerce-Spezialist Berlin Brands Group, eines der jüngsten Mitglieder in der Riege der Start-ups mit milliardenschwereren Bewertungen aus der Hauptstadt, hat in diesem Frühjahr ebenfalls ein Bankenkonsortium von seinem Geschäftsmodell überzeugt. An der 240 Mill. Dollar schweren Debt-Finanzierung unter Führung von Unicredit sind auch Deutsche Bank und Commerzbank beteiligt. „Zugang zu Fremdkapital war für uns seit jeher recht einfach, weil wir seit Gründung profitabel sind und damit ein wichtiges Argument auf unserer Seite haben“, sagt CFO Henrik Haenecke über die Finanzierung des Geschäfts mit Eigenmarken für das Direct-to-Consumer(D2C)-Geschäft im Online-Handel. Mit der erfolgreichen Skalierung des Geschäftes steige die Bereitschaft der Investoren, Fremdkapital zur Verfügung zu stellen. „Für uns war es schon immer ein wesentlicher Punkt, Mehrheitsgesellschafter zu bleiben. Wir sind damit unabhängig in den Entscheidungen“, sagt Haenecke zu den Beweggründen für den Einsatz von Fremdkapital bei Berlin Brands Group, die seit September die Beteiligungsgesellschaft Bain Capital an Bord hat.

Rekordvolumen in Europa

Nicht nur in Deutschland hat sich der Zugang zu Fremdkapital für den Firmennachwuchs in den vergangenen Monaten verbessert. Bis Anfang September hatten Start-ups in Europa nach Angaben des Informationsdienstes Dealroom schon 8,3 Mrd. Euro Fremdkapitalfinanzierungen und damit mehr als im bisherigen Rekordjahr 2017 auf die Beine gestellt (siehe Grafik). In den USA drehen Start-ups längst ein größeres Rad, das Wachstum der Fremdkapitalfinanzierungen zwischen 2015 und 2021 fiel laut Dealroom aber nur halb so stark wie in Europa aus.

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