Verzögerung für Nord Stream 2 treibt Gaspreis
cru Frankfurt
Die erhoffte Entlastung bei den rasant gestiegenen Gaspreisen durch die Inbetriebnahme der zweiten Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 verzögert sich. Die Bundesnetzagentur hat den Zertifizierungsprozess gestoppt, der notwendig ist, bevor die neue Verbindung aus Russland in Betrieb genommen werden kann, wie die Behörde am Dienstag mitteilte. Das ließ die europäischen Gaspreise, die auch die Strompreise unmittelbar beeinflussen, um bis zu 12% in die Höhe schnellen.
Man sei „nach eingehender Prüfung der Unterlagen zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Zertifizierung eines Betreibers der Leitung Nord Stream 2 nur dann in Betracht kommt, wenn der Betreiber in einer Rechtsform nach deutschem Recht organisiert ist“, teilte die Netzagentur mit. Der Pipeline-Betreiber, die Nord Stream 2 AG, eine hundertprozentige Tochter des russischen Staatskonzerns Gazprom mit Sitz in Zug in der Schweiz, will dieser Aufforderung jetzt nachkommen.
Eine separate Tochter für den Betrieb des deutschen Teilstücks von 55 Kilometern der insgesamt 1234 Kilometer langen Pipeline muss gegründet werden, um die Vorschriften der Europäischen Union zu erfüllen, wonach Gasproduzenten rechtlich von den Unternehmen getrennt sein müssen, die den Brennstoff transportieren. Das Zertifizierungsverfahren für Nord Stream 2 bleibt laut Netzagentur so lange ausgesetzt, bis die Übertragung der wesentlichen Vermögenswerte und personellen Mittel auf die Tochtergesellschaft abgeschlossen ist und die Behörde in der Lage ist, die neu vorgelegten Unterlagen der Tochtergesellschaft als neuer Antragstellerin auf ihre Vollständigkeit hin zu prüfen. „Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Bundesnetzagentur ihre Prüfung innerhalb des verbleibenden Restes der vom Gesetz vorgesehenen viermonatigen Frist fortsetzen, einen Entscheidungsentwurf erstellen und wie durch Binnenmarktrecht vorgesehen der Europäischen Kommission zur Stellungnahme übermitteln.“
Die Frist hätte am 8. Januar geendet – jetzt wird die Uhr angehalten.
EU-Entflechtungsregeln vorn…
Um die Entflechtungsregeln der EU zu erfüllen, hätte Nord Stream 2 das Pipeline-Teilstück auch verkaufen oder ein anderes Unternehmen mit dem Betrieb beauftragen können. Das wäre schwierig geworden, weil viele Unternehmen fürchten, so in den Geltungsbereich der US-Sanktionen gegen die Pipeline zu kommen. Deshalb – und auch auf Verlangen der Netzagentur – wählte Nord Stream 2 im Sommer 2020 den Antrag auf Entflechtung per Gründung einer separaten Tochter, die mildeste Variante der Entflechtung.
Inzwischen ist der politische Druck aus Brüssel sowie aus dem Bundestagswahlkampf und durch die US-Sanktionen offenbar so hoch geworden, dass die Netzagentur die in der Vergangenheit übliche Parallelität von Entflechtung und Inbetriebnahme in diesem Fall nicht zulassen will. „Weil alle so genau hinschauen, wird nicht mehr nur auf den Geist, sondern auch auf jeden Buchstaben der Regeln gepocht. Es sollen keine Angriffsflächen für späteres Nachkarten geschaffen werden“, sagt eine mit der Sache vertraute Person.
Die Pipeline, mit der die Kapazität der bestehenden Unterwasserroute von russischen Gasfeldern nach Europa verdoppelt werden soll, sorgt seit Jahren für Streit in den transatlantischen Beziehungen. Die Regierung von Kanzlerin Angela Merkel hat das Projekt trotz der Kritik der EU-Mitgliedstaaten und der USA, die der Meinung sind, dass Nord Stream 2 die Abhängigkeit Europas von Russland nur verstärken würde, stets unterstützt. Erst Ende Oktober war das Bundeswirtschaftsministerium in einer Versorgungssicherheitsanalyse zu dem Schluss gekommen, dass die Ostseepipeline die Sicherheit der Gasversorgung der Bundesrepublik und der EU nicht gefährde.
Die Aussetzung der Zertifizierung lässt nun die europäischen Benchmark-Gaspreise in die Höhe schnellen, da Händler befürchten, dass Europa kein dringend benötigtes zusätzliches Gas erhält, um die knappe Versorgung in der beginnenden Wintersaison mit den niedrigsten Vorräten seit mehr als einem Jahrzehnt zu sichern. Es besteht sogar die Befürchtung, dass es bei einem kalten Winter zu Stromausfällen in Europa kommen könnte.
…und USA im Hintergrund
Die USA behaupten, dass Nord Stream 2 Russland neuen Einfluss auf Europa verschafft. Während Deutschland sich verpflichtet hat, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, falls Präsident Wladimir Putin die Pipeline als „Waffe“ einsetzt, indem er die Ukraine von lukrativen Gasströmen abschneidet, hat Berlin nicht damit gedroht, das Ostseeprojekt zu stoppen.
Die beiden kleineren Parteien in den Gesprächen zur Bildung der neuen Bundesregierung, die Grünen und die Freien Demokraten, haben eine härtere Linie in Bezug auf die Pipeline eingeschlagen. Der Co-Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, sagte Anfang November, er glaube nicht, dass die Pipeline den europäischen Vorschriften entspreche. Dennoch haben die Sozialdemokraten unter Olaf Scholz das Projekt durchweg unterstützt, was eine aggressivere Haltung der neuen Regierung unwahrscheinlich macht.
Der Vorstandschef des ukrainischen Gaskonzerns Naftogaz, der von der Netzagentur beigeladen wurde, begrüßt die Aussetzung der Zertifizierung. „Allerdings ist noch nicht alles geklärt. Es scheint, als würde sich Gazprom juristischer Tricks bedienen“, sagte Yuriy Vitrenko. Er fordert die USA auf, Sanktionen gegen die Tochter zu verhängen: „Diese neuen Sanktionen müssen in Kraft bleiben, bis Russland aufhört, Erdgas als Waffe zu benutzen, und beginnt, im Einklang mit europäischen Regeln zu handeln.“ Die USA hatten bereits früher Sanktionen gegen das Projekt verhängt, aber die Regierung von Joe Biden hat dies aufgeweicht und Anfang 2021 eine Einigung mit Deutschland erzielt, um einen langjährigen Streit über die Pipeline zu beenden.
Der britische Premierminister Boris Johnson forderte am Montag die europäischen Staaten auf, sich Nord Stream 2 zu widersetzen, und warnte, dass das Projekt die Stabilität in der Region untergrabe: „Wir hoffen, dass unsere Freunde erkennen, dass sie bald vor der Wahl stehen – zwischen der Durchleitung von immer mehr russischen Kohlenwasserstoffen in riesigen neuen Pipelines und dem Eintreten für die Ukraine und die Sache des Friedens und der Stabilität“, sagte Johnson in London.
Die Nord Stream 2 AG erklärte, sie werde die Tochter in einer deutschen Rechtsform gründen, um „die Einhaltung der geltenden Regeln und Vorschriften zu gewährleisten“. „Wir sind nicht in der Lage, uns zu den Einzelheiten des Verfahrens, seiner möglichen Dauer und den Auswirkungen auf den Zeitplan für den Start der Pipeline zu äußern.“