Kalter Frieden zwischen den USA und China
Während seiner 36 Jahre im Senat hat sich Joe Biden als Vermittler profiliert, der stets das Gespräch mit der Opposition suchte und Kompromisse aushandeln konnte. In seiner Rolle als US-Präsident lernen die Amerikaner den Außenpolitikexperten von einer neuen Seite kennen: Im Duell mit China setzt Biden auf Angriff. „Peking ist weniger an Kooperation als an Dominanz interessiert“, formulierte ein leitender Berater des 46. Präsidenten die Prämisse, auf der die US-Politik gegenüber dem mächtigen Rivalen beruht. Biden knüpft an den konfrontativen Kurs seines Vorgängers Donald Trump an, will darüber aber andererseits gemeinsame Interessen – und seinen Ruf als Mediator – nicht vergessen.
Verbissen ringen die USA und China um die globale Hegemonie, um militärische Überlegenheit, die Dominanz ihrer politischen und ideologischen Wertesysteme, um die Vormachtstellung in Handel und Technologie. Beide Länder, die zusammen fast 42% der globalen Wirtschaftsleistung ausmachen, wollen aus einer Position der Stärke handeln. Gleichwohl streben sie in wichtigen Punkten, etwa dem Kampf gegen den Klimawandel, Kooperation an. Es ist eine Art „Kalter Frieden“ und eine Gratwanderung, die sich für beide Seiten als schwierig erweist.
Geprägt war Bidens erstes Jahr im Amt von dem Bemühen, die von Trump heraufbeschworenen Konflikte mit traditionellen Partnern zu entschärfen und die Zusammenarbeit mit Ländern am Rande der chinesischen Machtsphäre zu vertiefen. Er versuchte, die Europäer zu gemeinsamen Anstrengungen zu überreden, um zu verhindern, dass China in den Bereichen Informationstechnologie, künstliche Intelligenz und Biotechnologie die globale Führerschaft übernimmt. Auch begrüßte er die Regierungschefs der übrigen „Quad-Länder“ Japan, Indien und Australien zu einem Gipfeltreffen, bei dem die Stärkung des indopazifischen Wirtschaftsraums ebenso wie die Eindämmung von Pekings hegemonistischen Bestrebungen im Mittelpunkt standen.
Peking bricht Importversprechen
Während sein Vorgänger von dem hohen Handelsdefizit gegenüber dem Reich der Mitte irritiert war, das 2018 mit 418 Mrd. Dollar den höchsten Stand in der Geschichte erreichte und nun wieder geschrumpft ist, sind die nackten Zahlen aus Bidens Sicht zweitrangig. Dennoch hält er an Trumps Zöllen fest, die über 360 Mrd. Dollar an Importen treffen. Nicht zuletzt, weil China jene im „Phase 1“-Handelsabkommen konkret festgehaltenen Versprechen, seine Einfuhren aus den USA in Summe um 200 Mrd. Dollar zu steigern, nicht eingelöst hat.
Darüber hinaus hat Biden weniger provokante Schritte unternommen, die im Duell mit China die Wettbewerbsposition der US-Wirtschaft stärken sollen. So hatte der Präsident das 1,2 Bill. Dollar teure Infrastrukturgesetz als Maßnahmenbündel verkauft, das unverzichtbar sei, um mit dem Reich der Mitte Schritt zu halten. Auch hat die Regierung einen Bericht zu globalen Lieferketten veröffentlicht, der über eine Kombination aus staatlichen Zuschüssen, schärferer Regulierung und der Stärkung der Gewerkschaften Amerikas Unabhängigkeit von chinesischen Lieferanten sicherstellen soll.
Begründet werden sämtliche Maßnahmen mit jener Kritik, die auch frühere Präsidenten äußerten, die aber fast nie Gegenmaßnahmen auslöste: wettbewerbsverzerrende Handelspraktiken, der Diebstahl geistigen Eigentums, Menschenrechtsverletzungen und militärische Drohgebärden gegenüber Taiwan. Übersehen werden in der konfrontativen Haltung aber ausgerechnet jene Bereiche, in denen eine Kooperation und Entschärfung der Handelspolitik der US-Wirtschaft sogar helfen könnte.
So verständigten sich Biden und Xi Jinping am Rande des Klimagipfels in Glasgow auf einen beschleunigten Übergang zu erneuerbaren Energien. Die US-Zölle gegen chinesische Solartechnologie erschweren aber den Import billiger Solarplatten aus dem Reich der Mitte. Das wiederum verteuert gerade in einer Phase hoher Inflation die energiepolitische Wende in den USA. Auch will das Weiße Haus gemeinsame gesundheitspolitische Initiativen, die bereits 2004 mit der Einrichtung eines chinesischen Frühwarnsystems zur Erkennung von sich abzeichnenden Pandemien begonnen hatten, nun wieder zurückfahren. Das ausgerechnet, während die Omikron-Variante des Coronavirus die Infektionszahlen wieder steigen lässt.
Bidens doppelgleisiger Ansatz, also die Kombination aus Konfrontation und Kooperation, stößt bei den meisten Experten auf wenig Gegenliebe. Sie meinen, dass das Weiße Haus und die Handelsbeauftragte Katherine Tai besser beraten wären, weniger den Fokus auf China zu richten und stattdessen eine konsequente Strategie für den Umgang mit allen anderen Handelspartnern zu konzipieren.
Fehlende Weitsicht in der US-Handelspolitik und geringe Effektivität der Strafzollsystematik spielen Pekings Langfriststrategen in die Hände. Das Reich der Mitte hat seit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO vor 20 Jahren das Regelwerk geschickt genutzt, um Vorteile seiner Exportindustrie auszubauen und zugleich die Binnenwirtschaft zu schützen. Auch als Initiator für multilaterale Handelsbündnisse im asiatisch-pazifischen Raum hat sich das Land erfolgreich in Szene gesetzt.
Peking kann sich anrechnen lassen, trotz anfänglicher Traumatisierung durch den bilateralen Handelskonflikt keine Schwäche gezeigt zu haben, und fühlt sich nicht länger zu Konzessionen genötigt. Zum einen, weil das Exportgeschäft weiterhin brummt. Zum anderen, weil das „Phase-1“-Abkommen seitens der Biden-Regierung nicht mit Drohpotenzial unterlegt wird. Und auch die ewige Diskussion über Währungsmanipulation ist mit dem starken Yuan hinfällig geworden.
In den Stolz über Chinas konjunkturelle Resilienz gegenüber Washingtons wirtschaftspolitischen „Sabotageversuchen“, so die Lesart in Peking, mischen sich allerdings ernste Bedenken über die Auswirkungen der unter Trump lancierten und von Biden fortgesetzten Technologierestriktionen. Die beispiellosen Attacken gegen den Telekommunikationsausrüster Huawei haben Chinas globalen Technologiechampion aus dem Weltmarkt gekegelt. Dutzende weiterer chinesischer Unternehmen landen als Teil eines „militärisch-industriellen Komplexes“ wegen sicherheitspolitischer Bedenken auf Sanktionslisten, die sie von Geschäftsbeziehungen mit US-Firmen und dem Engagement von US-Investoren ausschließen.
Die technologische Angriffsflanke macht Chinas Strategen für Wirtschaft und Sicherheit wesentlich mehr zu schaffen als die plumpe Handelsoffensive und nötigt zum Umdenken. Die berühmte Agenda „Made in China 2025“ ist damit von der Bildfläche verschwunden. Daraus ist eine Defensivstrategie unter dem Motto „Dual Circulation“ geworden. Zum „internen“ Kreislauf gehört eine massive Aufrüstungskampagne in Sachen technologische Eigenentwicklung. Der bisherige Fokus auf westlichen Technologietransfer und Ideenklau, um die heimische Industrie auf internationale Wettbewerbsfähigkeit zu trimmen, weicht dem Fokus auf Forschung und Entwicklung bei Spitzentechnologie, um die heimische Wirtschaft unabhängiger vom Ausland zu machen und Technologierestriktionen als Waffe zu entschärfen.
Chinas Autarkiebestreben ist mit der Gefahr einer sukzessiven Abkoppelung der beiden größten Volkswirtschaften und ihrer jeweiligen Einflusssphären voneinander verbunden. In anderen Worten: Polarisierung als Gegenentwurf zur Globalisierung. Peking hält mit der Vision vom begleitenden „externen Kreislauf“ dagegen. Durch multilaterales Engagement, Handelspartnerschaften und Infrastrukturausbau via die ominöse Seidenstraße bleibt man als Exportweltmeister und „Global Influencer“ auf Kurs, während der sich stetig öffnende und trotz Pandemie robust wachsende Binnenmarkt ausländische Investoren bei Laune hält.
2022 wird zum Realitätscheck
Für 2022 aber steht ein neuer Realitätscheck ins Haus. Chinas Konjunkturdynamik hat zuletzt gelitten, weil die „Nulltoleranzstrategie“ gegenüber Covid der Wirtschaft zusetzt, während eine Verschuldungskrise bei führenden Bauträgern wie Evergrande den Immobilienmarkt lähmt. Es hapert beim internen Kreislauf. In Sachen Konjunkturstabilisierung ist man auf die Robustheit der globalen Nachfrage in Omikron-Zeiten und das Sentiment von China-Investoren angewiesen. Das Bild von Chinas unerschütterlicher Wirtschaftsstärke, die jedweden Konfrontationskurs mit dem Westen aushält, könnte rasch Kratzer bekommen.
Das Bestreben, die Nummer 1 zu sein, mag in China weniger ausgeprägt sein als in den USA, aber hegemonistische Anwandlungen sind unverkennbar. Die Furcht, von einem mächtigen Rivalen übervorteilt zu werden, prägt die Stimmung in beiden Ländern und engt den Kooperationsspielraum zusehends ein. Sowohl Peking als auch Washington stehen damit vor einem heiklen Drahtseilakt: Trotz unterschiedlicher Wirtschaftssysteme und politischer Ideologien zu einer friedlichen Koexistenz zu finden, welche der Produktivität und dem Wachstum in beiden Ländern dienlich ist.
Von Norbert Hellmann, Schanghai,
und Peter De Thier, Washington