Auf der Suche nach den ESG-Daten
Von Bernd Neubacher, Frankfurt
Die Finanzbranche hat mit der Verfügbarkeit von Nachhaltigkeitsdaten schwer zu kämpfen. Die Lücken sind so groß, dass nach Einschätzung von PwC vorerst offen bleiben muss, ob die entsprechenden Vorgaben praktikabel sind. Hätten Banken bereits taugliche Prozesse etabliert, um die Flut der Daten zu verarbeiten, wäre dies ökologisch eine gute Sache, da man grüne von braunen Aktivitäten unterscheiden könnte, sagt Ullrich Hartmann, Partner in der Banking and Capital Markets Practice von PwC, der Börsen-Zeitung. Momentan aber gebe es Defizite bei der Datenverfügbarkeit: „Daher muss man die Tauglichkeit bezogen auf das Jahr 2022 in Frage stellen“, erklärt er.
Angela McClellan, die vor wenigen Wochen vom Posten der Geschäftsführerin des Forums Nachhaltige Geldanlagen (FNG) in die Position der Leiterin des Financial Services ESG Center of Excellence von PwC wechselte, mahnt zugleich Praxistauglichkeit der Nachhaltigkeitsvorgaben an und moniert Differenzen in der jeweiligen Ausgestaltung. So sei die Taxonomie der EU-Kommission sehr detailliert und wenig praxisfreundlich ausgefallen, während etwa die Vorgaben zu Produkten nach der EU-Offenlegungsverordnung eher zu wenig Detaillierungsgrad aufwiesen: „Regulierung muss praxisfreundlich sein“, fordert sie: „Dies ist der wichtigste Maßstab für ihre Qualität.“
Sehr geringe Quoten
Als recht wenig praxisfreundlich erweist sich Hartmann zufolge etwa, dass Banken nach dem Willen der EU-Regulierer schon in ihren Corporate-Sustainability-Reports für 2021 die Quote ihres Kreditportfolios angeben sollen, die den Vorgaben der EU-Taxonomie entspricht. Nach einer Verschiebung der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) sollten diese Daten aber erst in zwei oder drei Jahren bereitstehen. Gemäß Taxonomie-Verordnung allerdings benötigten Banken diese Daten schon heute, erklärt Hartmann.
Dabei geht es wohlgemerkt noch nicht darum, jenen Anteil des Kreditportfolios anzugeben, welcher die Anforderungen im Detail erfüllt, etwa die Vorgaben für den Wasserdurchsatz von Leitungsrohren in Sanitäranlagen von Eigenheimen. Es geht allein um die Frage der grundsätzlichen Eignung – Kredite an Waldbauern etwa können als taxonomiefähig eingeordnet werden.
„Diese Quoten werden sehr gering sein“, kündigt Hartmann schon jetzt an und nennt das Beispiel einer Bank, die auf gerade einmal 2,4% kommen dürfte. Tatsächlich dürfte der Anteil weitaus höher sein – nur ist dies mangels Daten noch nicht zu belegen, wie er berichtet. Was etwa Angaben zum Durchmesser von Leitungsrohren angeht, wird es für Banken erst 2024 spannend werden, für Wirtschaftsunternehmen indes bereits 2023, wie McClellan erklärt. Die von der European Banking Authority (EBA) eingeführte Kennzahl Green Assets Ratio, die den Anteil grüner Finanzierungen an den Aktiva einer Bank angeben soll, dürfte vorerst unter 10% liegen, sagt Hartmann.
Anspruch und Realität
Dies zeigt, wie groß die Kluft im Streben nach mehr Nachhaltigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit noch ist und welche Probleme Regulierung und Banken auf dem Weg zur Realisierung von Nachhaltigkeitszielen noch bewältigen müssen.
Von Problemen will Hartmann aber nicht sprechen: „Die Entwicklung zu einem nachhaltig agierenden Finanzsektor ist richtig und wichtig“, betont er vielmehr. Die Bedeutung niedriger Kennzahlen wie im Falle der Green Asset Ratio relativiert er: „Noch gibt es keinen Benchmark-Wettbewerb mit Blick auf diese Zahlen, mittelfristig aber absolut.“ Gerade für Banken sei Sustainable Finance einer der künftigen Treiber, um am Markt Erfolg zu haben, stellt er fest. Entsprechend unternähmen Finanzinstitute seit zwei Jahren denn auch enorme Anstrengungen.
Um den Bedarf an Daten im Markt zu decken, plant PwC die Einführung einer eigenen Datenbank, die im Mai ihren Betrieb aufnehmen soll, kleinere Unternehmen allerdings zumindest von Beginn an noch nicht berücksichtigen wird. Dies ist aber nicht die einzige Dateninitiative. Der Sustainable-Finance-Beirat etwa empfahl schon 2019 der Bundesregierung den „Aufbau einer europäischen ESG-Rohdatenbank“. Das immer wieder verschobene Projekt soll nun ab 2024 schrittweise in Betrieb gehen und sukzessive alle Daten aus Nachhaltigkeitsberichten auf sich vereinen. Auch kleinere und mittlere Unternehmen, bei denen noch nicht feststeht, ob sie unter die CSRD fallen werden, sollen dabei Daten einliefern können.
Parallel dazu bauen Banken eigene Bestände auf. Auch ESG-Ratingagenturen bieten Daten an. Banken gehen vielfach parallel vor, indem sie auf eigene Faust Daten erheben, zugleich Daten einkaufen oder sich wie die Genossenschaftsbanken im Falle kleiner Betriebe mit nach Branchen standardisierten Schätzungen des BVR behelfen.
Verzögerung erwartet
Während die CSRD auch Anforderungen zu sozialen und Governance-Belangen enthält, liegen in der Taxonomie bislang nur Vorgaben für grüne Finanzierungen vor. Normen zu den Buchstaben „S“ und „G“ hingegen stehen noch aus.
Analog zur grünen Taxonomie sollen Aktivitäten dann auch zu sozialen Aspekten wie einer angemessenen Bezahlung positive oder negative Wirkung zugeschrieben werden. Da diese teils über nationale Gesetze hinausgehen, ist geplant, diese zu einem EU-Mindeststandard zu erheben, den die Staaten dann ratifizieren werden. Auch wenn die Plattform für nachhaltiges Finanzwesen – eine permanente Expertengruppe der Europäischen Kommission – bereits ihre Empfehlungen für eine soziale Taxonomie vorgelegt hat, hält McClellan es schon jetzt für „sehr wahrscheinlich, dass dieses Vorhaben verschoben wird. Eine Einigung der EU-Mitglieder auf soziale Kriterien wird nicht leichter als eine Einigung auf ökologische Kriterien“, gibt sie zu bedenken. So seien Klimakriterien leichter zu messen, soziale hingegen schwieriger zu quantifizieren. Noch weiter geht Florian Toncar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesfinanzministerium. Er stellte Ende März fest, im Moment sei es noch unklar, ob die Kommission einen Vorschlag für eine soziale Taxonomie unterbreiten wolle, und, falls ja, in welchem Zeitraum.
Hartmann unterdessen beurteilt die Schwierigkeiten bei der Definition sozialer Kriterien als nicht ganz so dramatisch. Soziale und Governance-Aspekte seien in der Bankenbranche breiter bekannt und stärker durchdrungen als Umweltfragen, gibt er zu bedenken. So forciert die Bankenaufsicht bei den Großbanken Eurolands schon seit Jahren gewisse Governance-Mindeststandards. Große Unsicherheit macht Hartmann allerdings mit Blick auf das Lieferkettengesetz aus. Im Falle von Industrieunternehmen sei es etwa klar, dass alles, was ihnen geliefert werde, zu untersuchen sei, sagt er. Im Falle der Banken allerdings sei fraglich, inwieweit die Vorgaben des Regelwerks auf die Kunden der Banken, also ihre Abnehmer, ausstrahlten. Über diese Frage, ob Schuldner als Teil der Lieferkette zu betrachten seien, finde derzeit eine intensive Diskussion zwischen Banken, Aufsehern und Regulierern statt, ohne dass bisher feststehe, wann eine Entscheidung fallen werde.
Überhaupt sind Verschiebungen bei regulatorischen Großprojekten inzwischen gang und gäbe. Hartmann führt Verzögerungen auf die Komplexität der Materie zurück, die Entwicklung von regulatorisch einleuchtenden Ideen in letztlich sehr kleinteilige Regelwerke wiederum unter anderem auf die Vielfalt der jeweils beteiligten Gremien und Akteure. Er plädiert daher generell für mehr prinzipienorientierte statt regelbasierte Regulierung. Angesichts des Ukraine-Krieges erhobene Forderungen, auch Rüstungsaktivitäten als grün einzustufen, nennt er zudem als Beispiel für die Notwendigkeit, flexibel auf geopolitische Veränderungen zu reagieren.
Den Charakter der gerade erst anlaufenden Regulierung als Großbaustelle illustriert nicht zuletzt der Umgang mit den Offenlegungsbestimmungen des Fondstandortgesetzes. Zwar haben Wirtschaftsprüfer, wie Hartmann darlegt, schon seit August vergangenen Jahres zu kontrollieren, inwieweit Anlage- und Portfolioberater ihrer Pflicht nachkommen, Kunden über die Nachhaltigkeit von Investmentprodukten zu informieren. Inzwischen aber hat man demnach festgestellt, dass Banken dabei schon mangels Daten kaum eine Alternative bleibt, als auf externe Daten zurückzugreifen. Die Validität der Angaben von ESG-Ratingagenturen steht im Markt allerdings noch stärker in Frage als jene der im Zuge der Finanzkrise in die Kritik geratenen Bonitätswächter, da die ESG-Ratingagenturen noch keiner Regulierung unterliegen. Tatsächlich drückt die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) daher bei der Kontrolle dieser Informationspflicht vorerst noch ein Auge zu. Hartmann: „Die BaFin akzeptiert es, wenn sich Banken aktuell noch auf externe Daten verlassen müssen.“