Erneuerbare zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Am 17. Dezember war es so weit: Das erste Terminal zur Anlandung von Flüssiggas (LNG) in Deutschland ging in Betrieb. In nur zehn Monaten hat es Deutschland geschafft, ein Infrastrukturgroßprojekt fertigzustellen – ein Rekord. Dass der Bau des Importterminals samt 26 km langer Anbindungsleitung in Höchstgeschwindigkeit gelang, ist allerdings nur dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der daraus erwachsenen Energiekrise in Europa geschuldet. Zwei Jahre zuvor hatte Uniper, die das LNG-Projekt in Wilhelmshaven in diesem Jahr im Auftrag der Bundesregierung vorantrieb, den geplanten Bau des Terminals noch auf Eis gelegt. Das Interesse aus dem Markt, Importkapazitäten verbindlich zu buchen, war 2020 schlicht nicht in ausreichendem Umfang vorhanden.
Mit dem Krieg in Europa und der bitteren Erkenntnis, wie groß die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Pipelinegas ist, sind neue Zeiten angebrochen, die von der Politik pragmatisches Handeln erforderten. Allerdings scheint sich der Pragmatismus auf das Beheben offensichtlicher Notstände zu beschränken. Dabei „ist die Not bei Erneuerbaren mindestens so groß wie bei Gas. Das will nur keiner wahrhaben“, klagt ein Branchenvertreter. Wenn es um den Ausbau von erneuerbaren Energien (EE) geht, hat sich die Situation in diesem Jahr sogar nochmals verschärft. „Es dauert derzeit im Schnitt mehr als sechs Jahre, bis ein Windprojekt genehmigt wird. 2018 waren es im Schnitt noch drei Jahre. Wir sind also noch schlechter geworden“, konstatiert EnBW-Vorstand Georg Stamatelopoulos. Dabei hatte sich die Ampel-Regierung bei ihrem Amtsantritt den Aufbruch in ein neues Energiezeitalter ins Pflichtenheft geschrieben. Im Koalitionsvertrag, der im Dezember 2021 und damit vor Kriegsausbruch unterzeichnet wurde, ist festgeschrieben, dass bis 2030 in Deutschland 80 % des hierzulande produzierten Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen sollen. Für Thomas Vahlenkamp, Senior Partner von McKinsey, handelt es sich dabei um eine Herkulesaufgabe. „Dafür muss die komplette Wertschöpfungskette rund um den EE-Ausbau befähigt werden: Angefangen bei der Aufstockung von Produktionskapazitäten über schnellere Genehmigungsverfahren bis hin zur Anwerbung bzw. Weiterqualifikation ausreichend vieler Fachkräfte für den Bau und Betrieb der Anlagen“, zählt Vahlenkamp auf.
Ambitionierte Ziele
Um das ambitionierte Ziel zu erreichen, müssten jährlich Fotovoltaikanlagen mit einer Kapazität von 18 Gigawatt (GW) errichtet werden und ebenfalls pro Jahr 1 800 Windräder an Land in Betrieb gehen. Zudem muss die Kapazität in der Offshore-Windkraft vervierfacht werden. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine erhebliche Lücke: Nach Angaben der Bundesnetzagentur sind in den ersten zehn Monaten dieses Jahres 6,1 GW an Solarkraft, 1,6 GW an Onshore-Windkraft und 234 Megawatt (MW) an Windenergie auf See zugebaut worden. Einzig beim Ausbau der Biomasseanlagen wurde das Soll übererfüllt. Mit einer bis zum Jahr 2030 geplanten Leistung von 8,4 GW stellen Biomasseanlagen allerdings auch die geringste Herausforderung dar.
Das Dilemma zeigte sich auch in den jüngsten Ausschreibungsergebnissen der Bundesnetzagentur. Beispiel Onshore-Wind: Für die zum Gebotstermin 1. September ausgeschriebene Menge von knapp 1 320 MW wurden gerade einmal Gebote von 772 MW eingereicht. Zum Gebotstermin 1. Dezember kamen für die ohnehin auf 604 MW reduzierte Menge nur Gebote von 203 MW zusammen. Beispiel Solaranlagen: Für die zum Gebotstermin 1. November ausgeschriebene Menge von 890 MW gingen nur Gebote für 677 MW ein. „Deutschland ist gerade dabei, seine Zukunft in der Welt der Erneuerbaren zu verspielen“, warnt Gothaer-Chef Oliver Schoeller und verweist dabei auf die zögerliche Genehmigungspraxis für Windkraftanlagen an Land, bei der Deutschland weit hinter den eigenen Ansprüchen zurückbleibt. „In diesem Jahr haben wir etwa 600 bis 700 neue Anlagegenehmigungen, wir bräuchten aber 1 500 bis 2 000 jährlich, um die Ziele zu erreichen“, veranschaulicht Schoeller und beklagt das Ausbleiben der so dringend benötigten Entbürokratisierung. Die Gothaer muss es wissen, versichert sie doch inzwischen europaweit 30 % aller Windkraftanlagen an Land.
Strompreisbremse ein Hemmschuh
Die Gründe für die ernüchternden Ausschreibungsergebnisse liegen nach Einschätzung von Kerstin Andreae, Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), in signifikanten Kostensteigerungen für Windenergieanlagen, Fotovoltaikmodule und Netzanschlusstechnik. „Der Druck auf die Rohstoffpreise als Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sowie die deutliche Erhöhung der Finanzierungskosten aufgrund gestiegener Zinsen wirken sich spürbar auf das Ausbautempo der erneuerbaren Energien aus“, sagt sie der Börsen-Zeitung. Im Markt wird zudem auf die hohe Planungsunsicherheit verwiesen, die sich mit der Einführung der Strompreisbremse und den komplexen Regelungen zur Erlösabschöpfung nochmals erhöhen wird.
„Das Gesetz ist ein Hemmschuh für Marktakteure und deren Investitionsbereitschaft“, resümiert Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie. Immerhin hat die Netzagentur nun die Möglichkeit erhalten, die Gebotshöchstwerte bei Ausschreibungen als Inflationsausgleich um 10% anzuheben. „Mit Blick auf 2023 braucht es Enabler-Maßnahmen, um bei Genehmigungen, bei Netzanschlüssen, der Flächenbereitstellung und beim Bürokratieabbau Geschwindigkeit zu erreichen“, bläst Robert Busch, Geschäftsführer des Bundesverbands neue Energiewirtschaft, ins gleiche Horn.
Von einem verlorenen Jahr wollen die Energieverbände dennoch nicht sprechen, auch wenn der Ausbau der Erneuerbaren im Gefolge der Energiekrise ins Hintertreffen geraten ist. „Nur mit deutlich mehr Erneuerbaren erreichen wir die Klimaziele, stärken unsere Unabhängigkeit von fossilen Energieimporten und damit den Wirtschaftsstandort“, sagt Andreae. Nach ihrer Einschätzung reichen die in den beiden Energiegesetzespaketen angekündigten Maßnahmen jedoch nicht aus, um die ambitionierten Ausbauziele zu erreichen. „Wir brauchen eine Gelingenshaltung bis in jede Amtsstube“, fordert sie. Die Bundesregierung habe zwar einiges auf den Weg gebracht, doch müssten die Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich beschleunigt werden. „Hier liegen die entscheidenden Stellschrauben bei den leider immer noch unklaren Regelungen im Arten- und Naturschutz sowie an langen Bearbeitungsfristen und Stichtagsregelungen, die gestrafft werden müssen“, sagt Andreae. Zudem müssten die Genehmigungsbehörden personell und technisch so ausgestattet werden, dass sie die größeren Projektvolumina auch bearbeiten könnten.
Wie man den Ausbau erneuerbarer Energien politisch sinnvoll angeht, machen gerade die USA mit ihrem „Inflation Reduction Act“ vor. Damit soll binnen zehn Jahren die Produktion und Nutzung erneuerbarer Energien mit knapp 400 Mrd. Dollar staatlich gefördert werden. Wenngleich das Gesetz mit dem irreführenden Namen in Europa wegen seiner protektionistischen Teilaspekte heftig in Kritik geraten ist, ist der Grundansatz richtig. „Es geht um den Spirit, der sich dahinter verbirgt“, sagt ein Manager eines international tätigen Energieversorgers. Er versteht nicht, dass die Botschaft bei Europas Politikern noch nicht angekommen ist.
Gamechanger aus den USA
Denn Europas Antwort auf den Inflation Reduction Act soll ein weiterer milliardenschwerer Subventionstopf sein. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schwebt ein „Souveränitätsfonds“ vor, der gemeinschaftlich finanziert wird. Dass das Förderprogramm Next Generation EU (NGEU) mit einem Volumen von 750 Mrd. Euro noch gar nicht ausgeschöpft ist, spielt bei den Überlegungen keine Rolle.
Anstatt großvolumige Subventionsprogramme aufzulegen, in deren Genuss aufgrund von Komplexität, Bürokratie und langwieriger Genehmigungsprozesse kaum ein Unternehmen kommt, sollte die Politik lieber die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Denn der Inflation Reduction Act überzeugt vor allem mit Schlichtheit. Im Zentrum stehen Steuergutschriften, die in ein verlässliches Rahmenwerk eingebettet sind. „Das Gesetz ist ein Gamechanger geo- und industriepolitisch“, bringt es ein Brancheninsider auf den Punkt.
Von Annette Becker, Düsseldorf
Von Annette Becker, Düsseldorf