LeitartikelLieferketten

Europäische Irritation

Am Mittwoch berät die Bundesregierung über ihre Haltung zum EU-Lieferkettengesetz. Sollte sie sich erneut dafür entscheiden, das eigentlich ausverhandelte EU-Gesetz nachträglich abzulehnen, büßt Deutschland weiter an Verlässlichkeit ein.

Europäische Irritation

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Europäische Irritation

Das Hü und Hott, etwa beim EU-Lieferketten­gesetz, macht die Bundesregierung zum unsicheren Kantonisten.

Von Detlef Fechtner

Am Ende klappte es sogar einstimmig: Alle nationalen Regierungen haben am Freitag gemeinsamen europäischen Vorgaben für den Einsatz künstlicher Intelligenz zugestimmt. Das war Tage vor dem Votum nicht klar gewesen. Zwar hatten sich Unterhändler im Dezember auf einen Kompromiss verständigt. Doch gegen den hatten nachträglich Frankreich, Österreich und Deutschland Vorbehalte geäußert.

Das KI-Gesetz ist kein Einzelfall. Voriges Jahr war bereits eine Verständigung über das Verbrennerverbot erzielt worden, da legte Minister Volker Wissing eine Kehrtwende hin – bevor Deutschland schließlich doch, nach Zugeständnissen hinsichtlich E-Fuels, seinen Widerstand aufgab. Und aktuell steht erneut eine EU-Richtlinie Spitz auf Knopf, die von den Unterhändlern aus Rat und EU-Parlament bereits durchgewinkt worden ist: das EU-Lieferkettengesetz. Finanzminister Christian Lindner und Justizminister Marco Buschmann erklären, ihre Häuser könnten den unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Einhaltung von Menschen- und Umweltrechten in der ausverhandelten Form nicht zustimmen, unter anderem wegen zivilrechtlicher Haftungsrisiken.

Mancher mag sagen: So ist eben Politik. Gesetze werden halt unterschiedlich bewertet. Dieser Blick auf das Hü und Hott Deutschlands in Brüssel übersieht jedoch, dass die Vorbehalte nicht während der Verhandlungen vorgebracht wurden, sondern nachdem ein Kompromiss gefunden wurde, den die Bundesregierung implizit akzeptiert hatte. Denn auch wenn Gesetzesverhandlungen in kleiner Runde stattfinden, so informiert die EU-Ratspräsidentschaft die Hauptstädte über jede neue Wendung – genauso wie der Berichterstatter des EU-Parlaments alle anderen Fraktionen zeitnah auf dem Laufenden hält. Alles andere wäre ja auch politisches Harakiri.

Kurzum: Selbstverständlich ist es völlig unpraktikabel, dass 705 EU-Abgeordnete mit 27 nationalen Fachministern über Rechtsbegriffe und Spiegelstriche in einem Gesetz verhandeln. Deshalb ist die Übertragung dieser Aufgabe an Unterhändler zwingend. Diese Praxis funktioniert aber nur, wenn unzufriedene Regierungen und Fraktionen rechtzeitig Widerspruch anmelden.

An dieser Stelle mögen einige einwenden: Was soll’s? Dann gibt es halt weniger EU-Gesetze, gibt doch ohnehin viel zu viele. Aber dieses Argument sticht nicht. Schließlich geht es nicht um irgendwelche gesetzgeberischen Sonderlocken, sondern um Vorgaben von politischem Gewicht. Der AI Act entscheidet maßgeblich mit darüber, ob europäische Firmen beim Einsatz von KI wettbewerbsfähig sind. Und das EU-Lieferkettengesetz trägt dazu bei, in der EU einen einheitlichen Rahmen für die nachhaltige Transformation der Wirtschaft zu schaffen – und damit für den Ausbau von Zukunftstechnologien wie Clean Tech.

Deutschlands späte Wendemanöver machen die Bundesregierung zu einem unsicheren Kantonisten. Europäische Irritation statt europäische Integration. Die EU lebt aber gerade von Zuverlässigkeit und Bereitschaft zum Kompromiss. Es gibt nur wenige europäische Rechtsakte, die allen Regierungen in jedem Detail zugesagt haben. Aber alle EU-Länder haben unterm Strich von der Verständigung auf einheitliche Vorgaben und dem Ausbau des gemeinsamen Marktes ungemein profitiert.

Das Verständnis vom gemeinsamen Nutzen der europäischen Veranstaltung ist zuletzt in Gefahr geraten, sei es durch das Erstarken nationalistischer Kräfte wie in den Niederlanden, sei es durch ungarische Muskelspiele bei Einstimmigkeitsbedarf, sei es durch halbstarke Blockaden wie in Italiens Parlament gegen Absicherungen im Falle von Bankpleiten. Die Fähigkeit der EU, Entscheidungen zu treffen, droht weiter eingeschränkt zu werden, wenn die Mehrheitsfindung im künftigen EU-Parlament schwieriger wird und wenn Ungarn den EU-Ratsvorsitz übernimmt. Daher ist es doppelt schmerzhaft, wenn Deutschland durch das Hin und Her in Gesetzgebungsverfahren an Verlässlichkeit einbüßt. Das sollte die Regierung vor Augen haben, wenn sie am Mittwoch über ihre Haltung zum EU-Lieferkettengesetz berät.

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