Christoph Rieger

„Anfang 2023 legt die EZB den Hebel um“

Bei der US-Notenbank sollte es im März zur ersten Leitzinsanhebung kommen. Bei der Europäischen Zentralbank dürfte es 2023 so weit sein, meint Zinsexperte Christoph Rieger von der Commerzbank.

„Anfang 2023 legt die EZB den Hebel um“

Kai Johannsen.

Herr Rieger, die Inflation ist ein zentrales Marktthema derzeit, denn die Teuerung geht deutlich nach oben, nicht nur in den USA sondern auch in der Eurozone. Was sind die Treiber des Inflationsschubs ganz allgemein?

Mehr als die Hälfte des Anstiegs der Euro-Inflationsrate ist auf Energie zurückzuführen, das heißt die Verteuerung von Treibstoffen, Gas und Strom. Bei vielen Güterpreisen schlagen die Lieferengpässe zu Buche, die dazu führen, dass die erhöhte Güternachfrage in der Pandemie auf ein geringeres Angebot trifft. Seit etwa einem halben Jahr haben auch die Preise bei einigen Dienstleistungen etwas angezogen. Anders als in den USA sind in der Eurozone bislang jedoch keine Zweitrundeneffekte etwa bei den Löhnen zu beobachten.

Gibt es noch spezielle Faktoren, die hier auf die Inflation Wirkung zeigen, die wir alle nicht so recht im Blick haben?

Der Anstieg bei den Vorleistungsgütern ist ungebremst und schlägt zunehmend auf die Konsumgüter durch. Meine große Sorge ist, dass die Lieferkettenproblematik länger bestehen bleibt oder sich sogar noch weiter verschärft. Wenn China an seiner Zero-Covid-Strategie festhält, könnte die Ausbreitung von Omikron die Knappheit bei vielen Vorprodukten in den kommenden Monaten noch einmal deutlich erhöhen.

Halten Sie die Teuerung im Euroraum für eine vorübergehendes oder ein dauerhaftes Element?

Die meisten der bisher angesprochenen Entwicklungen sind zwar pandemiebedingt. Es gibt jedoch eine Reihe von strukturellen Faktoren, die dafür sprechen, dass die sehr niedrigen Inflationsraten, die vor der Pandemie vorherrschten, nicht mehr zurückkehren. Die wichtigsten Argumente dafür sind die Kosten des Klimawandels, die Demografie und die Deglobalisierung. All dies zusammen mit der deutlich gestiegenen Geldmenge, die einem begrenzten Angebot and Gütern und Dienstleistungen gegenübersteht, unterstreicht die längerfristigen Inflationsrisiken.

Muss die Europäische Zentralbank jetzt reagieren, oder kann sie sich noch Zeit lassen bei der Straffung der geldpolitischen Zügel, die ja so häufig gefordert wird?

Es ist in der Tat schwer zu vermitteln, wieso die EZB im aktuellen Umfeld noch an ihrer ultralockeren Geldpolitik festhält. In ihren eigenen Projektionen rechnet sie mittelfristig mit einer Teuerungsrate von 1,8%. Das ist innerhalb der Toleranzbandbreite vom 2-%-Ziel. Berücksichtigt man den Effekt durch die geplante Berücksichtigung der Kosten für selbst genutztes Wohneigentum, den die EZB selbst mit 0,2 Prozentpunkten angibt, dann wäre das Ziel bereits jetzt erreicht.

Könnte es sein, dass die EZB die Inflationsentwicklung unterschätzt und später umso kräftiger gegensteuern muss? Was würde auf eine Unterschätzung hindeuten?

Mit der deutlichen Anhebung der Inflationsprojektionen im Dezember hat sich die EZB zunächst etwas Luft verschafft. Die Projektion für dieses Jahr wurde von 1,7% auf 3,2% fast verdoppelt, so dass das Risiko weiterer böser Überraschungen in diesem Jahr reduziert wurde. Auf längere Sicht besteht jedoch die Gefahr, dass die sehr expansive Geldpolitik zu einem größeren Inflationsproblem führen wird, das neben den Verbraucherpreisen übrigens auch die Vermögenspreise betrifft. Ein kräftiges Gegensteuern erwarte ich dennoch nicht. Eher wird man sehr lange argumentieren, dass die Inflation mittelfristig wieder fällt, um somit über extrem negative Realrenditen die Tragfähigkeit der massiv angestiegenen Verschuldung sicherzustellen.

Wann rechnen Sie denn mit einer Leitzinsanhebung der EZB – der ersten nach Covid-19?

Anfang 2023 legt die EZB den Hebel um. Wir rechnen mit einer ersten kleinen Zinsanhebung um 10 Basispunkte im ersten Quartal 2023. Das ist etwas später, als vom Markt derzeit erwartet, allerdings deutlich früher als der Konsens.

Wo erwarten Sie den Einlagensatz der Europäischen Zentralbank Mitte und Ende dieses Jahres und im nächsten Jahr?

In diesem Jahr unverändert bei –0,5%, im kommenden Jahr rechnen wir mit vier kleinen sukzessiven Zinsanhebungen auf –0,1%.

Wo sehen Sie die zehnjährige Bundrendite per Mitte 2022 und Ende 2022?

Mitte 2022 prognostizieren wir +0,1%, am Jahresende wieder bei –0,1%.

Die Fed hat ja in Aussicht gestellt, dass die Zeit des ultralockeren Kurses nun wohl vorbei ist. Die Bondkäufe werden heruntergefahren, die Leitzinsen sollen schneller als bislang gedacht erhöht werden. Glauben Sie allen Ernstes, dass es angesichts der Erfahrungen aus der Vergangenheit zu diesem forscheren Verhalten der Fed kommen wird?

Erfahrungen aus der Vergangenheit sind in der Pandemie oft wenig relevant. Entscheidend ist, dass die US-Wirtschaft wegen üppiger Coronahilfen und einer lockeren Geldpolitik überhitzt ist. Der Anstieg der Verbraucherpreise auf breiter Front lässt sich nicht mit den Verzerrungen durch die Pandemie erklären, und Zweitrundeneffekte sind längst Realität. Von daher dürfte die Fed im März mit Zinserhöhungen beginnen.

Wo sehen Sie den US-Leitzins Mitte dieses und Ende dieses Jahres?

Wir rechnen mit Zinserhöhungen um 0,25 Basispunkte jedes Quartal, das heißt bis auf 0,5% zur Jahresmitte und 1% zum Jahresende.

Wo erwarten Sie die zehnjährige US-Treasury-Rendite Mitte und Ende dieses Jahres?

Zur Jahresmitte prognostizieren wir 2,1%, am Jahresende 1,9%.

Was sind die Risikofaktoren, die den Notenbanken wieder einen Strich durch die Rechnung beim Exit machen könnten?

Als Erstes ist hier natürlich der Pandemieverlauf zu nennen und das Risiko weiterer Mutationen. Darüber hinaus sind die geopolitischen Risiken nicht zu unterschätzen, etwa durch Russland/Ukraine oder China/Taiwan. Nicht zu vergessen ist auch die permanente Bedrohung durch Cyberattacken, die Fed-Chef Powell jüngst als das größte Risiko für das globale Finanzsystem herausgestellt hat.

Mal ehrlich: Bekommen wir eine Zinswende hin zu dauerhaft höheren Bundrenditen zum Beispiel im zehnjährigen Bereich wie etwa 2 oder 3%?

Das kann ich mir nicht vorstellen.

Was müsste dafür geschehen, dass genau so ein Renditeanstieg passiert?

Dazu müsste nicht nur die Inflation nachhaltig anziehen, sondern auch das Wirtschaftswachstum müsste längerfristig deutlich anziehen, so dass höhere Unternehmensgewinne die Aktienbewertungen auch noch bei einem risikolosen Zins in diesem Bereich rechtfertigen würden.

Sie fühlen sich also mit der Prognose eines anhaltenden Niedrig-, Null- bzw. Negativzinsumfeldes weiterhin wohl – wie schon so viele Jahre?

Absolut!

Das Interview führte

BZ+
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