Kapitalmarkt

Auferstehung des Zinses – Fluch oder Segen?

Der wieder auferstandene Kapitalmarktzins trifft den Bestand an Anleiheanlagen hart. Investoren, die neue Rentenanlagen tätigen wollen, eröffnet sich dadurch aber ein Silberstreif am Horizont.

Auferstehung des Zinses – Fluch oder Segen?

„Totgesagte leben länger“, weiß der Volksmund. Und so mag manchem Finanzpolitiker in Europa in der vorweihnachtlichen Zeit eher Knecht Ruprecht als der Nikolaus erscheinen. Denn ein wieder zum Leben erwachter Kapitalmarktzins führt schmerzhaft vor Augen, dass die süße Versuchung Staatsverschuldung langfristig fiskalisch sauer aufstoßen kann.

Was ist geschehen? Das jahrelang von den Notenbanken zunehmend wider die ökonomische Vernunft durchgesetzte Nullzinsregime hat bei vielen die gefährliche Illusion erweckt, Schulden seien umsonst. Erinnert sei an die Nonsens-Diskussion um MMT, die sogenannte Modern Monetary Theory. Mehr noch, Kredite wurden kognitiv dissonant als Geschenk wahrgenommen. Veranschaulicht sei die Denke am theoretischen Beispiel einer hundertjährigen Staatsanleihe mit einem Kupon von −1%: Stark simplifiziert – etwa unter Ausklammerung von Zinseszinseffekten – liefe die Refinanzierung in diesem Fall quasi automatisch, die Negativzinsakkumulation ergäbe letztlich die Tilgung.

Notenbanken zu zögerlich

Doch diese Alchemie funktioniert nur dann, wenn die Zinsen „ewig“ auf dem künstlich niedrigen Niveau bleiben. Allerdings kann eine zentrale ökonomische Steuerungsgröße nicht langfristig manipuliert werden, ohne dass sich an anderer Stelle Probleme auftürmen. In diesem Fall sind das steigende öffentliche und private Verschuldungsniveaus, vielerorts überhitzende Immobilienmärkte sowie Marktübertreibungs-phänomene wie Bitcoin, Spacs, Meme-Aktien und möglicherweise auch Zombie-Unternehmen. Länger anhaltende Fehlallokationen werden häufig von Untoten begleitet. Mitunter löst dann ein extremes Ereignis – in diesem Fall Ukraine-Krieg und Energieversorgungskrise – ein Zusammenfallen des Kartenhauses aus. Das Ruder muss jetzt herumgerissen werden, was die großen Zentralbanken auch tun. Unter Taylor-Regeln aber immer noch zu zögerlich: Bei einer Teuerungsrate von über 10% in der Eurozone bedeutet ein Leitzins von 2% lediglich, dass etwas weniger Öl als zuvor ins Inflationsfeuer geschüttet wird!

Wenngleich es wohl selten den idealen Zeitpunkt für eine umfangreiche geldpolitische Straffung gibt, scheint die aktuelle Situation besonders brisant: Gleichzeitige obere Wendepunkte bei den zweieiigen Zwillingen Konjunktur- und Finanzzyklus signalisieren perspektivisch eine sich eher hinziehende rezessive Phase. Auch wenn enge und damit relativ stabile Arbeitsmärkte deren Tiefe abmildern dürften. Den Straffungszyklus alsbald zu beenden, ist allerdings keine Alternative. Bei Inflationsraten um den zweistelligen Bereich herum verbietet sich dies im Interesse aller. Preisstabilität ist nicht alles, aber ohne sie ist wohl alles nichts.

Und so nehmen die Währungshüter ihr originäres Mandat wieder ernster – spät, aber besser spät als nie. Ihr Ziel sind inverse Zinsstrukturkurven, um gesamtwirtschaftliche Übertreibungen zu dämpfen. Gerade hierzulande mag man nun bedauern, dass sich der deutsche Staat zuletzt zu Niedrigzinsen eher kurz- und nicht langfristig verschuldet hat. Da die aufgenommenen Mittel in der Regel nicht zurückgezahlt, sondern prolongiert werden, greift hier relativ schnell der neue – höhere – Zinssatz und damit die den Haushalt belastende Zinslast. Schade – andere Staaten haben dies besser gemacht.

Einmalig heftige Korrektur

Auch Anleger leiden. Denn die steigenden Zinsen bringen Kursverluste mit sich. Egal ob Staats-, Unternehmens- oder Schwellenländeranleihen: Bei den meisten Schuldtiteln sind im bisherigen Jahresverlauf Kursverluste im zweistelligen Prozentbereich zu verzeichnen – gerade auch bei traditionellen Portfolio-Stabilitätsankern wie Staatsanleihen höchster Bonität. Eine so heftige Korrektur ist in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig. Erschwerend kommt hinzu, dass es aktuell an den Finanzmärkten über fast alle Assetklassen hinweg ein außergewöhnlich hohes Maß an Korrelation gibt. Die Zinssensibilität ist sehr hoch. Vielen Privatanlegern ist der Risikoappetit, vielen Institutionellen das Risikobudget vergangen. Aber: Für Investoren ist die aktuelle Situation nicht nur ein „Fluch“. Nach vorne schauend hat das Ganze auch eine „segensreiche“ Komponente. So ist zum einen die Auferstehung des Zinses nicht genug zu würdigen. Denn damit wird die zentrale ökonomische Steuerungsgröße wieder weniger verzerrt. Als Preisinformation wird sie dafür sorgen, dass Kapital weltweit wieder effizienter investiert wird. Zum anderen geht hiermit die Rückkehr von Risikoprämien einher. In der Folge bieten Neuanlagen in Schuldtitel wieder die Aussicht auf Zinserträge. Erstmals seit längerem simulieren Kapitalmarktmodelle von Allianz Global Investors für die Breite der Anleihemärkte auf Sicht von fünf Jahren wieder positive annualisierte Renditen. Mit dieser Flut hebt sich auch das „Boot“ der zu erwartenden Aktienrenditen. Damit sollte für Mischfonds auch wieder das natürliche Risikoinstrument der Diversifikation besser greifen können. Vorher war es weitestgehend in der Negativzinsfalle gefangen.

Die ebenso schmerzhafte wie notwendige geldpolitische Normalisierung hat somit zwei Seiten: Den Bestand an Anleiheanlagen trifft dies sicherlich hart. Investoren, die neue Rentenanlagen tätigen wollen oder regulatorisch bedingt müssen, eröffnet sich dadurch aber ein Silberstreif am Horizont. So gesehen: „Short term pain, long term gain.“ Neues Risikobudget für gestaffeltes Vorgehen bereitzustellen ist daher sinnvoll. Das neue Kalenderjahr bietet dafür automatisch eine Gelegenheit.

Ingo Mainert ist CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors.

In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.

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