Bescheideneres Dividendengericht
Von Daniel Zulauf, Zürich
Die Schweiz ist ein Mekka für Dividendenjäger. Diesem Ruf macht der Markt auch in der gerade laufenden Ausschüttungssaison alle Ehre. Knapp 42 Mrd. sfr erhalten die Aktionäre der 30 nach Marktkapitalisierung wertvollsten Publikumsgesellschaften dieses Mal an Gewinnabführungen, wie die jährliche Auswertung der Börsen-Zeitung zeigt.
Das Niveau aus der Zeit vor der Pandemie ist zwar noch nicht ganz erreicht. Dennoch ist die Dividendenkraft der 30 führenden Schweizer Konzerne, deren Aktien im Swiss Leader Index (SLI) abgebildet werden, von bemerkenswerter Potenz. Wohl haben die Eigentümer des Dax dieser Tage Dividenden in Höhe von rund 46 Mrd. Euro eingestrichen. Doch ohne die Aufstockung des Dax von 30 auf 40 Unternehmen lägen die Schweizer Konzerne im Direktvergleich immer noch klar vorn.
Der Dividendensegen in der Schweiz ist allerdings schlecht verteilt. Nahezu 23 Mrd. sfr oder mehr als die Hälfte fließen in die Taschen der Aktionäre von Nestlé, Roche und Novartis. Die drei Multis repräsentieren gut die Hälfte des Wertes aller im SLI enthaltenen Gesellschaften.
Zu den größten Dividendenempfängern in der Schweiz gehören die Basler Familien Hoffmann und Oeri, die auch dieses Jahr einen Anteil von weit über 700 Mill. sfr aus dem Gewinn des von ihnen kontrollierten Roche-Konzerns erhalten. Harte Konkurrenz erhalten die Roche-Erben von Klaus-Michael Kühne, der 52,9% aller Aktien des Logistikkonzerns Kühne + Nagel besitzt.
Milliardär Kühne profitiert
Das Unternehmen profitierte während der Pandemie in extremem Mass von dem Anstieg der Frachtraten sowie anderen Knappheitsphänomenen und erreichte so fast eine Verdreifachung des Jahresgewinns von 788 Mill. sfr auf über 2 Mrd. sfr im zurückliegenden Jahr. Für die Aktionäre fallen Dividenden von 1,2 Mrd. sfr ab – 670 Mill. sfr mehr als im Vorjahr. Für Hauptaktionär Kühne springen allein 635 Mill. sfr heraus.
Mit dem Geld konnte der 84-Jährige den Kauf eines 10-%-Anteils an der Lufthansa finanzieren, der aktuell einen Wert von über 800 Mill Euro hat. Der Vorgang zeigt die volkswirtschaftliche Bedeutung des jährlichen Dividendensegens. Auch in der Schweiz sind nebst den Roche-Erben zahlreiche Familien Nutznießer der Gewinnausschüttungen.
Gemäß einer Studie der Finanzmarktforscher Yvonne Seiler Zimmermann und Heinz Zimmermann aus dem Jahr 2019 ist der Schweizer Aktienmarkt entgegen anderslautenden Erhebungen fest in Schweizer Hand. Von den namentlich bekannten Aktionären von Schweizer Publikumsgesellschaften liegen 66% in den Händen von Einheimischen.
Allerdings ist in der Dividendenentwicklung der Schweizer Großunternehmen seit einigen Jahren eine gewisse Verflachung feststellbar. Schuld daran hat nicht allein die Pandemie. Lorenzo Biasio, Pharmaspezialist bei der Credit Suisse, erklärt die Verflachung „zu einem großen Teil mit spezifischen Entwicklungen bei zwei großen Basler Pharmakonzernen“. Novartis hat seit 2015 reife Geschäftsteile veräußert und mit einem Teil der Einnahmen den Einkauf junger Forschungsfirmen in den USA finanziert. Die Dividendenkraft des Konzerns ist dadurch mindestens vorübergehend geringer geworden.
Auch Roche sieht sich seit einigen Jahren mit einer erstarkenden Konkurrenz von Firmen konfrontiert, die sich auf die Nachahmung von biologischen Medikamenten (Biosimilars) spezialisieren. Ein Blick in die tiefere Vergangenheit der beiden Konzerne zeigt, dass diese ihre Ausschüttungen in den Jahren 2007 bis 2009 um 50% (Novartis) bzw. um 30% (Roche) zu steigern wussten. Seit 2014 haben die Ausschüttungen der beiden Konzerne in absoluten Zahlen nur noch um 1% bzw. 3% zugenommen.
Ungebrochen hoch ist die Dividendendynamik dagegen bei der ungekrönten Schweizer Dividendenkönigin Nestlé. Der Nahrungsmittelmulti schüttet fast 7,9 Mrd. sfr an seine Eigentümer aus – 11% mehr als 2014. Obschon sich seit jenen Jahren auch Aufsteiger wie der Bauchemiekonzern Sika, Versicherer Swiss Life oder der Zementhersteller Holcim in der Statistik nach vorn arbeiten konnten, ist in den kommenden Jahren für den Gesamtmarkt mit einer anhaltend flachen Dividendenentwicklung zu rechnen.
Ein wichtiger Grund dafür sind die eingetrübten Wirtschaftsprognosen. „Das Rezessionsrisiko in Europa ist derzeit relativ hoch, und die Schweiz wird sich einem Konjunktureinbruch in Europa nicht entziehen können“, sagt Credit-Suisse-Chefökonom Claude Maurer. „Glücklicherweise können wir uns im Moment immer noch auf eine robuste und stark wachsende US-Wirtschaft verlassen. Aber auch dort nimmt das Rezessionsrisiko zu, weil die Notenbank die schnell drehende Lohn-Preis-Spirale zum Stillstand bringen muss“, sagt Maurer.
Verlässlichkeit gewachsen
Nach Einschätzung von Analyst Biasio ist die Dividendenverlässlichkeit des Schweizer Marktes im Vergleich zu den Zeiten vor der Finanzkrise aber deutlich größer geworden. Nach der Finanzkrise dauerte es in Europa ganze fünf Jahre, bis das alte Dividendenniveau wieder erreicht wurde. Das hatte mit dem hohen Anteil der Finanzbranche am gesamten Dividendenaufkommen zu tun. In der Schweiz ist das Gewicht der Finanzbranche gemessen an der Kapitalisierung des Gesamtmarktes seit 2006 laut Biasio aber deutlich kleiner geworden. Für die Anleger ist das eine gute Nachricht. Der Markt ist widerstandsfähiger gegen Konjunkturschwankungen geworden.
Der relative Bedeutungsverlust der Finanzbranche dürfte auch ein Grund dafür sein, dass auch die CEO-Löhne seit einigen Jahren nicht weiter gegen den Himmel steigen. Der Höchstwert von 198 Mill. sfr innerhalb des Beobachtungsraumes der vorliegenden Statistik liegt immerhin bereits sechs Jahre zurück. Mit einer Gesamtentschädigung von 191 Mill. sfr sind die CEO der 30 größten Schweizer Konzerne freilich immer noch die bestbezahlten Manager Europas.