Finanzmärkte

„Die Signal­funktion des Anleihe­marktes ist stark gestört“

Guy Wagner, Chef der Banque de Luxembourg Investments (BLI), stuft die weltweite Verfassung des wirtschaftlichen Wachstums derzeit weiterhin als gut ein. Die umfangreichen Bondkaufprogramme der Zentralbanken, die deutlichen Druck auf die Renditen ausüben, würden die Signalfunktion des Anleihemarktes jedoch sehr stark stören.

„Die Signal­funktion des Anleihe­marktes ist stark gestört“

Kai Johannsen.

Herr Wagner, die Weltwirtschaft hat sich jüngst weiter erholt. Ist der dynamische Trend für Sie auch in den kommenden Monaten intakt, und welche Gründe sprechen dafür, oder ist er mit ernstzunehmenden Unsicherheitsfaktoren behaftet?

Momentan ist die Verfassung weiterhin gut. Durch die Wiedereröffnung nach den Lockdowns gibt es Erholungspotenzial. Hinzu kommen natürlich die Stimulierungsmaßnahmen in den USA, aber auch in anderen Ländern weltweit wie auch der Eurozone. Im Moment sieht es ja auch nicht danach aus, als würde das grundsätzlich in Frage gestellt. Es gibt einen Unsicherheitsfaktor, und das sind aufkommende Virusmutationen wie die Delta-Variante. Aber diese Sorgen halten sich aktuell noch in Grenzen. Es sieht ja nicht danach aus, dass wir es dadurch wieder mit Lockdowns zu tun bekommen. Die Wachstumsraten sehen global gut aus, was natürlich auch mit dem Vorjahresvergleich zu tun hat, als alles quasi zusammengebrochen war – Stichwort ist hier auch der Basiseffekt. Vor diesem Hintergrund sind die hohen Wachstumsraten nicht besonders erstaunlich. Das kannten wir nur aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in dieser Form nicht mehr. Das Wachstum beruht im Wesentlichen auf den Stützungsmaßnahmen. Man kann sich die Frage stellen, ob das langfristig gut geht. Normalerweise ist es so, dass schuldenfinanziertes Wachstum nicht immer das beste Wachstum gewesen ist.

Zentrales Thema an den Märkten ist die Inflationsentwicklung. In den USA liegt sie über 5%, in Deutschland bei knappen 4% Verbraucherpreisinflation­. Welche Faktoren sprechen für einen dauerhaften Inflationsanstieg?

Es gibt verschiedene Aspekte. Die Faktoren, die in den vergangenen Jahren zur Disinflation und niedriger Inflation geführt haben, kehren sich nun teilweise um. Da ist die Globalisierung zu nennen. Die Zeiten, in denen man in asiatischen Ländern eine immer billigere Produktion bewerkstelligen konnte, sind zusehends vorbei. Es müssen höhere Gehälter bezahlt werden. Viele stellen unter dem Eindruck der Pandemie die Globalisierung ohnehin in Frage. Es kommt die demografische Entwicklung dazu, die im Ergebnis ein geringeres Arbeitskräftevolumen bedeutet mit entsprechenden Auswirkungen auf das Lohnniveau. Hinzu kommen Faktoren, die nicht für jeden immer so greifbar sind. Das sind die Maßnahmen der Zentralbanken. Man hat immer mehr den Eindruck, dass die Zentralbanken, die ja der Garant für stabile Preise sein sollen, immer mehr in die Richtung einer höheren Inflation gehen wollen. Gleichzeitig wird von ihnen verlangt, dass sie die Zinsen niedrig halten, damit der Schuldendienst die öffentlichen Haushalte nicht zu sehr belastet. In Verbindung mit Fiskalmaßnahmen hat das langfristig in der Vergangenheit auch immer zu mehr Inflation geführt.

Und welche Faktoren sprechen für ein vorübergehendes Inflationsphänomen?

Die Inflationsanstiege haben in den vergangenen Monaten auch sehr viel mit Basiseffekten zu tun gehabt. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die deutlichen Rückgänge der Rohstoffpreise und ihren späteren Anstieg. Das sind Effekte, die sich im Vorjahresvergleich bemerkbar machen. Aber das wird sich in den kommenden Monaten auch wieder ausgleichen. Das sind also nur temporäre Effekte. Die Lieferketten waren zeitweise zusammengebrochen, aber auch das normalisiert sich wieder im Zeitablauf, und die Preise kommen hier wieder zurück. Der technologische Fortschritt und die Digitalisierung, die durch die Covid-19-Krise nochmals einen Schub erfahren hat, sind zwei weitere Faktoren, die eher für niedrigere Preise sprechen. Eine anhaltende Inflation bekommt man zudem nur dann, wenn im Gleichschritt dann auf lange Sicht auch die Löhne steigen. Andernfalls werden wir bei bestimmten Produkten und Dienstleistungen zwar Preissteigerungen sehen, diese werden jedoch ohne steigende Löhne durch Preisrückgänge bei anderen Produkten und Dienstleistungen kompensiert werden.

Haben die Zentralbanken mit ihrer Politik der quantitativen Lockerung ihr Ziel der Inflationsgenerierung nicht erreicht, oder ist es nur eine reine Assetpreisinflation auf den Finanz- und Immobilienmärkten?

Die Zentralbanken wollen eine Inflation von um die 2%, und zwar in der Realwirtschaft. Aber trotz der quantitativen Lockerung ist es zu diesen Inflationsraten doch nicht gekommen. Die Inflation ist schon da und das auch schon seit vielen Jahren, man sieht sie im Wesentlichen in den Finanzmarktpreisen und den Immobilienpreisen, aber man sieht sie in vielen übrigen Bereichen der Realwirtschaft nicht.

Die Anleihemärkte – in den USA und der Eurozone etwa – scheinen sich angesichts der jüngsten Renditerückgänge auf ein temporäres Inflationsphänomen einzustellen. Könnte die Signalfunktion der Rentenmärkte auch gestört sein?

In dieser Frage gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Ich würde in der Tat sagen, dass die Signalfunktion der Anleihemärkte gestört ist. In den USA etwa ist die Inflation auf mehr als 5% gestiegen, und gleichzeitig fiel die 30-jährige US-Staatsanleiherendite unter 2%. Das ist schon eine massive Diskrepanz. Das heißt, wir haben es mit hohen negativen Realzinsen zu tun. Nun kann man natürlich vermuten, dass der Anleihemarkt bereits etwas sieht, was der Aktienmarkt noch nicht so wahrgenommen hat, nämlich einen deutlichen Rückgang des Wachstums. Oder man sagt eben, dass die Signalfunktion des Anleihemarktes massiv gestört ist, dadurch, dass die Zentralbanken in großem Stil Anleihen kaufen. Die Käufe dieser Bonds kommen nicht aus der privaten Wirtschaft, wo eine rationale Entscheidung hinter diesen Käufen steht oder zumindest stehen sollte, sondern es sind diese massiven Kaufprogramme der Notenbanken. Ich denke vor diesem Hintergrund, dass die Signalfunktion des Anleihemarktes in der Tat sehr stark gestört ist.

Fed-Chef Jerome Powell hat mehr­fach­ klargestellt, dass er bei Zins­erhöhungen­ noch abwarten möchte. Wann rechnen Sie mit der ersten Zinsanhebung beziehungsweise einem Beginn des Tapering?

Die Fed geht ja davon aus, dass die ersten Zinsanhebungen frühestens Ende 2023 stattfinden werden, also in rund zwei Jahren. Es wird sich zeigen, was nun beim Zentralbankertreffen in Jackson Hole herauskommt beziehungsweise diskutiert wird. Die jüngsten Arbeitsmarktda­ten waren gut, die Inflation ist hoch. Wenn die Fed jetzt nicht mit dem Tapering beginnt, wann sollte sie es dann tun? Aber die Zentralbanken sind auf der Linie, dass sie die Zinsen weiterhin nicht erhöhen möchten und auch nicht mit dem Tapering beginnen wollen, weil das Wachstum ihrer Meinung nach immer noch sehr fragil ist in vielen Ländern. Deshalb wird es vermieden, die Leitzinsen zu erhöhen. Und wir wissen auch, wie sensibel gerade die Fed und ihre Verantwortlichen auf die Entwicklungen an den Finanzmärkten wie etwa Aktienkursrückgänge reagieren. Darüber sorgt sich die Zentralbank, und dann würde ein bereits begonnenes Tapering auch schnell wieder zurückgeführt werden.

Welche Auswirkungen hätte ein zu schnelles oder frühes Agieren der Fed im Sinne von Zinsanhebungen?

In diesem Umfeld aus robustem Arbeitsmarkt und hoher Inflation kann man eigentlich nicht von einem zu frühen Beginn des Tapering sprechen. Wir dürften eigentlich nicht mehr von einem Beginn des Tapering und ersten Leitzinsanhebungen sprechen, sondern das Tapering hätte schon längst ein Stück gelaufen sein sollen. Aber das ist ja gerade nicht der Fall. Von zu früh kann also eigentlich gar keine Rede sein. Wenn die ersten Zinsanhebungen kommen, wird die Fed das sehr behutsam machen. Ich glaube nicht, dass das Risiko aus Zinsanhebungen und Tapering für die Realwirtschaft derzeit sehr groß ist. Das Risiko besteht eher in den Reaktionen der Finanzmärkte. Und die Aktienmärkte sind es gewohnt, dass sie das von den Notenbanken bekommen, was sie wollen, also niedrige Zinsen, Aussicht auf erst einmal ausbleibende Erhöhungen und ein Tapering, wenn denn überhaupt eins kommt, das sehr langsam vonstattengeht. Es kann auch gut sein, dass die Aktienmärkte ein Tapering nicht gut aufnehmen. In der Realwirtschaft sehe ich dagegen keine größeren Auswirkungen. Auswirkungen sehe ich natürlich auf den Schuldendienst, wenn die Zinsen einmal steigen sollten. Viele Länder haben hohe Schulden derzeit, aber angesichts der niedrigen Zinsen kosten diese verständlicherweise kaum etwas oder sogar gar nichts. Das kann sich dann natürlich ändern.

Und in der Eurozone nach der Neuausrichtung der EZB-Strategie: Bleiben die Leitzinsen nun noch länger niedrig?

Es sieht jedenfalls danach aus. Alles, was wir derzeit an Zinserhöhungen und Tapering so hören, betrifft ja die US-Notenbank. Die Renditeanstiege an den Bondmärkten Ende vergangenen und Anfang dieses Jahres bezogen sich ja im Wesentlichen nur auf den US-Markt, die zehnjährige Bundrendite ist zwar auch gestiegen, sie blieb aber im negativen Bereich. Die Wirtschaft der Eurozone profitiert ja auch von den Maßnahmen, die in den USA ergriffen werden. Aber das Wachstum war in der Eurozone ja nicht so hoch wie in den USA in den vergangenen Monaten. Wir haben uns hier ein Stück weit erholt, aber die fundamentalen Probleme in der Eurozone sind bekannt, und das wird in den kommenden Monaten und Jahren nicht besser werden.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund­ die Perspektiven für die internationalen Aktienmärkte? Nehmen die Aktienmärkte die wirtschaftliche Erholung nicht schon komplett vorweg?

Das kann man durchaus sagen, denn die Aktienmärkte liegen auf höheren Kursniveaus als vor der Pandemie. Die Gewinne der Unternehmen haben sich zwar erholt, bleiben jedoch unter dem Niveau, das vor der Pandemie von den Analysten für 2021 erwartet worden war. Das bedeutet, die Bewertungen sind gestiegen. Zwei Faktoren sind für die Entwicklung der Aktienmärkte wichtig, und das sind die Gewinne der Unternehmen und der Zins. Beide Faktoren bleiben momentan positiv. Trotz der gut laufenden Erholung sehen wir keine Anzeichen dafür, dass die Zentralbanken mit Zinsanhebungen reagieren würden. Und die langfristigen Zinsen sind nach den zwischenzeitlichen Anstiegen wieder zurückgekommen. Von dieser Seite besteht also grünes Licht. Und durch die gute wirtschaftliche Erholung wird auch die Gewinnsituation der Unternehmen positiv be­einflusst. Angesichts des niedrigen Zinsniveaus stellt sich sowieso immer wieder die Frage nach den Alternativen zu Aktien – außer es käme zu einer Verschlechterung der Konjunktur, welche auf den Unternehmensgewinnen lasten würde.

Welche Märkte beziehungsweise Regionen sind schon gut gelaufen, und wo besteht noch Potenzial?

Auch in dieser Erholung haben die USA wieder einmal outperformt. Die beste Gewinnentwicklung ist in Sektoren zu finden, die in den USA in den Indizes höher gewichtet sind als beispielsweise in Asien, allen voran sind das die Technologiewerte. Von daher ist es auch wenig erstaunlich, dass die US-Märkte diese Outperformance gezeigt haben. Am anderen Ende der Skala findet man dann eher die asiatischen Märkte. Etwas überrascht hat mich die Entwicklung in Japan, da die japanische Wirtschaft stark vom weltweiten Konjunkturaufschwung profitiert. Aber der japanische Aktienmarkt hinkt hinterher. Bei anderen asiatischen Märkten ist die Entwicklung weniger erstaunlich. China führt eher weiterhin eine orthodoxe Geld- und Fiskalpolitik durch. Das führte dazu, dass das Wachstum der chinesischen Wirtschaft in der ersten Phase nicht so stark gewesen ist. Langfristig bleiben die asiatischen Märkte jedoch sehr interessant.

Das Interview führte

BZ+
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