Disney besitzt Vorteile gegenüber Netflix
Von Alex Wehnert, Frankfurt
Dagobert Duck wäre mit der Börsenentwicklung der Walt Disney Company derzeit sicher nicht zufrieden. Denn beim Blick auf den Kursverlauf müsste die aus der Feder von Disney-Zeichner Carl Barks stammende reichste Ente der Welt feststellen, dass der Titel zwischen Jahresbeginn und Donnerstag 35% an Wert verloren hat. Vom im März 2021 erreichten Rekordhoch ist die Aktie weit entfernt, stattdessen notiert sie näher an den Niveaus, zu denen sie kurz nach dem Corona-Marktcrash im März 2020 gehandelt wurde.
Dabei leiden Disney unter dem allgemein eingetrübten Anlegersentiment, doch auch eine politische Kontroverse dürfte laut Analysten zur erhöhten Volatilität beigetragen haben. Diese dreht sich um ein im US-Bundesstaat Florida verabschiedetes Gesetz, gemäß dem Lehrer mit Schülern unter neun Jahren nicht mehr über sexuelle Orientierung und Gender-Identitäten sprechen dürfen. Gegen dieses hatte Disney auf Druck von Mitarbeitern und Aktivisten Stellung bezogen und politische Spenden in Florida eingestellt.
Logistische Probleme
In Reaktion darauf entzog der US-Bundesstaat dem Bereich um den „Disney World“-Freizeitpark nahe Orlando den Status als autonome Zone, den dieser seit 1967 innegehabt hatte. Dies wirft laut Beobachtern steuerrechtliche Fragen auf, verursacht aber vor allem logistische Probleme für das Unternehmen. Denn dieses müsse für Veränderungen innerhalb des Parks nun eventuell Baugenehmigungen bei der Stadt einholen.
Hauptsächlich dürften aber Sorgen bezüglich der Entwicklung der Nutzerzahlen im Streaming-Geschäft die Anleger beschäftigen. So hatte CFO Christine McCarthy während eines Investorencalls zum zweiten Geschäftsquartal für Verunsicherung gesorgt. Ihren Aussagen nach erwartet der Konzern aus Burbank im zweiten Halbjahr zwar weiterhin stärkere Nutzerzuwächse seines Streaming-Dienstes „Disney Plus“ als in der ersten Jahreshälfte. Allerdings dürften diese angesichts der Entwicklung im ersten Quartal, mit der Disney die Erwartungen übertroffen hatte, relativ betrachtet weniger eindrucksvoll aussehen.
Einerseits fiel die Börsenreaktion auf die Äußerungen nervös aus, weil das Unternehmen mit seinen Streaming-Bemühungen noch viel Cash verbrennt. Für 2022 hat Disney in Aussicht gestellt, die Ausgaben für neue Video-Inhalte um 8 Mrd. Dollar auf insgesamt 33 Mrd. Dollar zu erhöhen, um Disney Plus und weitere Direct-to-Consumer-Angebote wie Hulu und ESPN Plus zu stützen. Viele Anleger dürften in einem Umfeld steigender Zinsen dagegen eher Wert auf starke Cashflows und eine hohe Profitabilität von Geschäftsmodellen legen, wie Analysten betonen.
Andererseits dürften die schwachen Zahlen von Konkurrent Netflix zum ersten Quartal zur Verunsicherung bezüglich der Aussichten von Disney beigetragen haben. Das Unternehmen hatte die Marktteilnehmer mit dem ersten Nutzerrückgang seit zehn Jahren kalt erwischt: Netto sprangen zwischen Anfang Januar und Ende März 200000 Abonnenten ab, das Management war von einem Zuwachs um 2,5 Millionen Kunden ausgegangen. Für das zweite Quartal rechnet Netflix nun sogar mit einem Abschied von 2 Millionen Abonnenten.
Dagegen vermeldete Disney für das Ende April abgelaufene zweite Geschäftsquartal einen Zuwachs um 8 Millionen Nutzer. Aktuell reflektiert auch die Analystenstimmung diese unterschiedliche Entwicklung. Denn während die einstige Begeisterung für die Netflix-Aktie tiefer Skepsis gewichen ist, nimmt sich die Stimmung für das Disney-Papier wesentlich positiver aus. Von 36 Investmenthäusern, die den Titel regelmäßig beobachten, geben laut dem Datendienstleister Bloomberg 29 eine Kaufempfehlung ab. Dagegen votiert kein einziger Analyst auf „Verkaufen“.
Neben der niedrigeren Preisstruktur verfügt Disney mit dem stärkeren Zuschnitt des Streaming-Angebots auf ein jüngeres Publikum laut Marktakteuren über einen weiteren entscheidenden Vorteil gegenüber Netflix. Denn viele Haushalte, insbesondere solche mit Kindern, entschieden sich aufgrund von Franchises wie „Star Wars“ oder „Marvel“ für Disney Plus als zentralen Video-on-Demand-Dienst. Netflix werde bei Bedarf als Zweitangebot gebucht, bei Disney fluktuierten die Nutzerzahlen jedoch weniger stark.
Hinzu kommt, dass Netflix aufgrund von Trittbrettfahrern Probleme hat, das eigene Abonnementmodell im ausreichenden Maß zu monetisieren. Laut der Investmentbank J.P. Morgan nutzen allein in den Vereinigten Staaten und Kanada über 30 Millionen Haushalte den Streaming-Dienst, bezahlen aufgrund des Passwort-Sharings aber nicht dafür. Disney setzte sich dagegen bereits mit dem Launch der hauseigenen Streaming-Dienste mit dem Problem geteilter Accounts auseinander und nutzt eine Analysetechnologie, die unnatürliche Anstiege bei der Zahl der verwendeten Endgeräte erkennt.
Auch Netflix will zwar eine härtere Gangart gegen Trittbrettfahrer einschlagen und über ein werbefinanziertes Modell neue Kunden anlocken. Diese Maßnahmen dürften laut J.P. Morgan aber erst in den kommenden beiden Kalenderjahren in Kraft treten. Disney will dagegen bereits im laufenden Jahr ein günstigeres, werbeunterstütztes System einführen. Dabei verfügt der Konzern schon über eine passende Vorlage: Auf seiner Plattform Hulu nutzt er bereits ein reklamebasiertes Modell, mit dem er laut J.P. Morgan im Direct-to-Consumer-Bereich führend ist.
Tiefe Wertschöpfungskette
Vor allem profitiert Disney laut den Analysten aber von der Stärke seiner Marken und der Möglichkeit, diese über eine tiefe Wertschöpfungskette hinweg zu bewerben. Schließlich beschränkt sich das Geschäft der Kalifornier nicht nur auf Streaming, sondern erstreckt sich auch auf Kinofilme, Videospiele, Fanartikel und Freizeitparks. Somit entstehen Schwungeffekte in der Kundenakquise.
J.P. Morgan betont zudem, dass sich das Freizeitparkgeschäft stärker als erwartet von der Pandemie erholt habe und trotz kurzfristiger Belastungen durch die Inflation starkes Potenzial für Steigerungen der Profitabilität biete. Aus Sicht der Investmentbank ist die Disney-Aktie damit gerade für längerfristig orientierte Investoren attraktiv – eine Einschätzung, die wohl auch Dagobert Duck mit Zufriedenheit registrieren würde.