ING sieht Investitionsbedarf
ING sieht Investitionsbedarf
Monetarisierung von Staatsschulden in den nächsten Jahren nicht auszuschließen
hip London
Die europäische Wirtschaft wäre gut beraten, sich nicht auf die möglichen Auswirkungen möglicher US-Zölle zu konzentrieren, sondern auf sich selbst. So sieht es Carsten Brzeski, Global Head of Macro Research der ING. „Aus meiner Sicht sind die Deregulierungs- und Steuersenkungsthemen viel schlimmer für Europa“, sagte er bei einer Presseveranstaltung des Instituts in London.
Der designierte US-Präsident Donald Trump werde es schaffen, durch eine neue Form von „Beggar-thy-Neighbor-Politik" Investitionen in die Vereinigten Staaten zu ziehen. Europäischen Regierungen dürfte es dagegen schwerfallen, dem großen Investitionsbedarf auf dem Kontinent nachzukommen. Die Bank beziffert die Investitionslücke allein für Deutschland auf 600 Mrd. Euro.
Steile Thesen
Zunächst dürften die Notenbanken ihre Leitzinsen senken. Dann seien die Regierungen gefragt. Eine höhere Verschuldung dürfte jedoch eine steilere Zinskurve nach sich ziehen. Zu den „bold calls“ im Kapitalmarktausblick, den steilen Thesen, die von der ING allerdings nicht für die wahrscheinlichsten gehalten werden, gehört, dass die EZB „yield curve control“ betreiben muss, um sie zu stabilisieren. Denn die Notenbank kann zwar den Leitzins senken, doch müssen die Mitgliedstaaten auch Abnehmer für ihre Schuldentitel finden.
Fordert der Markt höhere Zinsen, kann die Zentralbank eine Obergrenze für die Anleiherenditen einziehen. Sie müsste dafür so viele Schuldentitel wie nötig kaufen, um diese Obergrenze zu verteidigen. Dafür gebe es bereits ein Instrument, das sogenannte Transmission Protection Instrument (TPI) der EZB, sagte Brzeski. Aus seiner Sicht ist nicht auszuschließen, dass es zur Monetarisierung von Staatsschulden kommt.
Süden steht gut da
Europas Süden stehe vergleichsweise gut da, sagte Brzeski. Diese Länder hätten im Vergleich zu den nördlichen Nachbarn einen größeren Teil aus dem europäischen Aufbauplan „Next Generation EU“ erhalten und verfügten noch über reichlich Mittel. Zudem gebe es seit Ende der Pandemie einen Tourismusboom.
In der Eurokrise hatte man Südeuropa aus Berlin noch dazu aufgefordert, dem deutschen Beispiel zu folgen. „Jetzt erweist sich als Segen, dass der Süden nicht mehr wie Deutschland geworden ist und über kein industrielles Rückgrat verfügt, das der chinesischen Konkurrenz standhalten muss“, sagte Brzeski.
„Schrittweise Wohlstandsverluste“
In Deutschland sei man immer noch davon überzeugt, Zeit für die Modernisierung des alten Wirtschaftsmodells zu haben und weiterhin das tun zu können, was man bisher auch gemacht hat, nur effizienter. „Die Frage ist, ob das ausreicht, um langfristig im Wettbewerb mit China zu bestehen“, sagte Brzeski. „Was ich gerne sehen würde, ist eine Debatte darüber, welche Branchen langfristig zukunftsfähig sind.“
Deutschland drohten „schrittweise Wohlstandsverluste“. Deshalb sei es so wichtig, den Draghi-Plan umzusetzen.
Hoffen auf Normalisierung der Sparquote
Die ING-Chefvolkswirtin Marieke Blom machte einen „bold call“, der einem Hoffnungsschimmer gleichkam: In Europa seien die Realeinkommen gestiegen. Nach Einschätzung der ING dürfte sich das fortsetzen, doch die Menschen sparten mehr. Was wäre, wenn sie mehr ausgäben? Eine Normalisierung der Sparquote von derzeit 15% auf den Prä-Covid-Wert von 12,5% könnte für 1,5 Prozentpunkte mehr Wirtschaftswachstum sorgen.