Italien drohen 2022 größere Spread-Wellen
Von Sophia Oertmann *)
Der italienische Haushaltsentwurf sieht 5,6% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Budgetdefizit für 2022 vor – im Vergleich zur Prognose des italienischen Finanzministeriums von 9,4% für 2021 ein deutlicher Rückgang. Angesichts der Pandemiefolgen wurden zudem die Maastricht-Verschuldungsregeln durch die EU-Kommission auch für 2022 ausgesetzt. Ist das wiederholte Überschreiten der gewöhnlich maximal gestatteten Neuverschuldung von 3% des BIP demnach kein Problem? Aus verschiedenen Gründen lautet die Antwort „doch“.
Erklärtes Ziel der italienischen Regierung ist es, den sprunghaften Anstieg der BIP-Wachstumsraten im Zuge des Post-Corona-Aufschwungs in ein strukturelles Wirtschaftswachstum zu überführen. Daher soll die Fiskalpolitik so lange expansiv bleiben, bis das BIP und die Beschäftigung das Niveau von 2019 erreichen und das entgangene Wachstum der Corona-Jahre aufgeholt haben. Die von der Regierung erwarteten Steigerungen der realen Wirtschaftsleistung von 6% im laufenden und 4,7% im kommenden Jahr sollen die anhaltend hohen Budgetdefizite ermöglichen, ohne ein Überschießen der ohnehin schon hohen Schuldenstandsquote von voraussichtlich etwa 154% Ende 2021 auszulösen.
Das starke Wirtschaftswachstum soll unter anderem durch den Europäischen Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ (NGEU) ermöglicht werden. Italien erhält in Summe 191,5 Mrd. Euro, davon 68,9 Mrd. Euro an Zuschüssen und den Rest in Form von Krediten. Die Auszahlung der Mittel ist allerdings an das Erreichen festgelegter Meilensteine gebunden – bis Jahresende muss Italien eine Liste von 51 Reformen und Investitionen abarbeiten. Bislang konnte nur knapp die Hälfte davon erfüllt werden, sodass ein Verfehlen der Ziele befürchtet wird.
Optimistische Zielsetzung
Selbst wenn es Italien gelingt, die geforderten und ohnehin wichtigen Reformen umzusetzen und somit die vollen NGEU-Mittel auszuschöpfen, dürfte sich das angepeilte Wirtschaftswachstum aller Voraussicht nach als zu optimistisch herausstellen. Zum Vergleich: Zwischen 2014 und 2019 betrug das durchschnittliche BIP-Wachstum Italiens nicht einmal 1%. Ein bedeutend höheres Wachstum dürfte nur durch umfangreiche Investitionen in die Wirtschaft zur Steigerung der Produktivität möglich werden. Die genauere Betrachtung des Budgetentwurfs für das kommende Jahr offenbart jedoch, dass von der geplanten Neuverschuldung in Höhe von 23 Mrd. Euro ein großer Anteil in Steuersenkungen fließen soll.
Am Markt war bislang von Unruhe kaum eine Spur, obwohl es an glaubhaften Plänen zur Schuldenreduzierung, die über ein erhofftes florierendes Wirtschaftswachstum hinausgehen, mangelt. Im Februar 2021 notierte der zehnjährige Bund-Spread italienischer Staatsanleihen mit 91 Basispunkten (BP) zeitweise auf dem niedrigsten Niveau seit mehr als fünf Jahren. Ausschlaggebend für den seit Mai 2020 bestehenden Einengungstrend bei den Risikoaufschlägen gegenüber Bundesanleihen waren die massiven Anleihekäufe im Rahmen des Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) der EZB. Neben dem ohnehin bestehenden Asset Purchase Programme (APP), in dessen Rahmen die EZB Anleihekäufe von 20 Mrd. Euro monatlich tätigt, kam das Pandemie-Notfallprogramm mit durchschnittlich knapp 80 Mrd. Euro pro Monat hinzu. Risiken wurden mühelos durch die Anleihekäufe absorbiert und konnten sich daher kaum auf die Spreads auswirken.
Schon bald könnte sich dieses Umfeld komfortabler Refinanzierungsmöglichkeiten für Italien allerdings ändern. Schließlich dürfte auf der EZB-Sitzung am 16. Dezember ein Tapering-Prozess, also eine graduelle Reduzierung der PEPP-Anleihekäufe, angekündigt werden. Nach aktuellem Stand soll das Notfallankaufprogramm im März 2022 enden. Ein abruptes Wegfallen der massiven EZB-Nachfrage würde aber zu unerwünschten und plötzlichen Spread-Ausweitungen nicht nur bei Italien führen. Insofern erscheint ein langsames Auslaufen oder die Einführung eines neuen Absicherungswerkzeugs wahrscheinlich.
Fest steht jedoch: Die Nachfrage-kraft der EZB dürfte im kommenden Jahr nachlassen, während der Refinanzierungsbedarf Italiens weiterhin hoch bleibt. Insofern droht dem Land eine gewaltige Refinanzierungslücke, sobald die EZB nicht mehr wie zuletzt gut 40% des Bruttoemissionsvolumens aufkauft. Italien wäre dann darauf angewiesen, dass private Investoren die Nachfragelücke schließen („Crowding-in“), wofür diese wiederum höhere Risikoprämien fordern dürften. Damit drohen nach einem bislang äußerst ruhigen Spread-Verlauf im Jahr 2021 im nächsten Jahr größere Spread-Wellen auf Italien zuzurollen. Am aktuellen Rand hat sich der zehnjährige italienische Bund-Spread bereits auf über 120 BP ausgeweitet – die bevorstehenden Risiken werden langsam eingepreist.
Politisches Ungemach
Darüber hinaus steuert Italien 2022 auf politisches Ungemach zu. So endet im Februar die Amtszeit von Staatspräsident Sergio Mattarella, und bislang herrscht wenig Klarheit über dessen Nachfolge. Spätestens seit Mattarellas Absage an eine weitere Amtszeit mehren sich die Spekulationen, dass der amtierende Premierminister Mario Draghi das höchste politische Amt übernehmen könnte. Wie groß in diesem Fall die Überlebenschancen der amtierenden Sechs-Parteien-Koalition wären, ist mehr als unklar. Regulär stünden die nächsten Wahlen erst 2023 an. Mit Blick auf die durchschnittliche Regierungszeit in der jüngeren italienischen Geschichte stehen die Chancen eher schlecht, ohne den parteilosen Vermittler Draghi die politische Harmonie aufrechtzuerhalten.
Nach aktuellem Stand der Umfragen kämen die rechten Parteien „Lega Nord“ und „Fratelli d’Italia“ zusammen auf rund 40% der Stimmen und wären damit die deutlichen Gewinner von Neuwahlen. Dabei kommt Lega-Chef Salvini eine entscheidende Rolle zu. Sollte er die Aussicht haben, nach Neuwahlen ein Bündnis aus Lega und Brüdern Italiens mit seiner Partei anführen zu können, dürfte er der amtierenden Regierung rechtzeitig das Vertrauen entziehen. Allein der Gedanke an ein rechtes Parteien-Bündnis und dessen Bedeutung für die Beziehungen zwischen Rom und Brüssel dürfte über italienischen Staatspapieren Gewitterwolken aufziehen lassen. Zunehmend steigt daher der Druck auf Draghi, seine Absichten offenzulegen.
Nach einem verhältnismäßig ruhigen Spread-Verlauf im Jahr 2021 unter stabiler politischer Führung durch den ehemaligen EZB-Präsidenten dürften Italien somit gleich drei Risikofaktoren ins neue Jahr begleiten: besorgniserregende Staatsverschuldung, gefährliche Abhängigkeit von den EZB-Anleihekäufen und politische Unwägbarkeiten rund um die Präsidentschaftswahlen. Zumindest den ersten Risikofaktor hätte man mit einem glaubhafteren Plan zur Schuldenreduzierung im Haushaltsentwurf für 2022 entschärfen können. Die Rechnung dafür könnte Rom bald in Form von steigenden Risikoaufschlägen empfangen.
*) Sophia Oertmann ist Rentenmarktanalystin bei der DZBank.