Kapitalmärkte

Neuer Realitätssinn an den Märkten

Angesichts der fundamentalen Aussichten und der im Raum stehenden Risiken sind fallende Renditen auch in den kommenden Wochen und Monaten wahrscheinlicher als ein dauerhaft steigender Renditetrend.

Neuer Realitätssinn an den Märkten

Rezessionssorgen haben am Kapitalmarkt das Ruder übernommen. Überraschend kommt das jedoch keineswegs. Eine bevorstehende deutliche wirtschaftliche Abschwächung habe ich an dieser Stelle bereits vor Monaten thematisiert. Überraschend ist eher, dass die Kapitalmärkte dies erst in den letzten drei Wochen stärker in den Fokus nehmen und von Seiten der Notenbanken noch immer argumentiert wird, dass angesichts hoher Inflationsraten höhere Leitzinsen einerseits notwendig und andererseits aus wirtschaftlicher Sicht auch verkraftbar seien – eine Utopie, denn mit dem Zeitverzug im geldpolitischen Wirkungskanal werden die aktuell avisierten Zinsanhebungen ohnehin erst in einigen Quartalen und somit stark prozyklisch auf die makroökonomische Lage wirken. Und das Versäumnis, zu spät auf steigende Inflationsraten reagiert zu haben, lässt sich eben nicht dadurch heilen, dann umso stärker an der Zinsschraube zu drehen, wenn sich die mittelfristigen Aussichten bereits eintrüben.

Rohstoffpreise knicken ein

Mittlerweile hat zumindest der Kapitalmarkt die Zeichen der Zeit erkannt. Industriemetalle und andere konjunktursensitive Rohstoffe verzeichneten seit Mitte Juni Preisrückgänge von 20%, selbst der Ölpreis knickte am Dienstag um gut 10% ein. Bei Aktien musste auch der Energiesektor zuletzt Federn lassen, während im Markt für Unternehmensanleihen die Risikoaufschläge sich den während der Coronaverwerfungen beobachteten Niveaus annähern.

Auch am Staatsanleihenmarkt scheint sich ein realistischerer Blick auf die kommenden Entwicklungen abzuzeichnen. Zugegeben, bereits vor drei Monaten mit Blick auf die konjunkturellen Risiken länger laufende Staatsanleihen als attraktiv zu bezeichnen, hat sich bislang noch nicht als richtig herausgestellt. Dass es eine Übertreibungsphase war, die sich mittlerweile korrigiert, liegt aber inzwischen auf der Hand, denn seitdem ist die Liste der Abwärtsrisiken nur länger geworden. Es ist daher konsequent, wenn der Rentenmarkt bereits Zinssenkungen seitens der US-Fed für 2023 einpreist. Mit Blick auf die EZB ist ebenfalls fraglich, wie weit die Zinsen überhaupt angehoben werden können, bevor erneut der Rückwärtsgang eingelegt werden muss. Trotz der Kursrückgänge in den verschiedenen Marktsegmenten und des jüngsten Renditeverfalls im Rentenmarkt überwiegen vorerst aber natürlich weiter die Abwärtsrisiken. Die Trends der letzten drei Wochen werden sich wohl fortsetzen. Insbesondere belastet aktuell mehr als alles andere die Unsicherheit darüber, ob nach den geplanten Wartungsarbeiten an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 die Lieferungen russischen Gases erneut aufgenommen werden oder bereits in etwa vier Wochen klar ist, dass die fehlende Gasversorgung kurzfristig zu Engpässen und harten Einschnitten in der deutschen Industrie und darüber hinaus führt. Ein Blick auf die CDS-Prämien, die Investoren zur Absicherung von Credit-Risiken der BASF derzeit fordern, sagt mehr als tausend Worte in diesem Zusammenhang.

Risiken unter Kontrolle halten

Dass im Euroraum für den Fall einer kurzfristigen Gasknappheit mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von mindestens 6% noch 2022 zu rechnen ist, haben diverse Studien ausführlich dargelegt. Schade nur, dass sich die Eintrittswahrscheinlichkeit dieses Szenarios kaum seriös beziffern lässt und aus Sicht von Allokationsentscheidungen somit auch kaum eine wahrscheinlichkeitsgewichtete Erwartung von Risiko und Chance gebildet werden kann. Bleibt daher vorerst nur, eher die Risiken unter Kontrolle zu halten und dort gezielt einzugehen, wo eine höhere Visibilität besteht.

Aktuell scheinen zwar insbesondere die Credit-Märkte gewillt, eher von einem Worst-Case-Szenario auszugehen. Zumindest sind die Bewertungen beispielsweise im Euro-High-Yield-Markt bereits deutlich näher an Niveaus, die mit einem Wirtschaftseinbruch in oben genannter Größenordnung kompatibel sind, als dies beispielsweise im Aktienmarkt der Fall ist, denn gemessen an den Ausfall- und Rating-Downgrade-Risiken, die während rezessiver Phasen normalerweise zu beobachten sind, sind hier bereits attraktive Niveaus erreicht. Dennoch dürfte hier wie dort vorerst noch der Abgabedruck weiter dominieren. Egal wie man es dreht und wendet, solange man nicht bereit ist, eine Wette auf die Gasliefermengen nach den Wartungsarbeiten einzugehen, führen diese Überlegung letztlich wieder in den Govie-Markt. Angesichts der fundamentalen Aussichten und der im Raum stehenden Risiken ist es deutlich wahrscheinlicher, dass die Renditen über die Kurve hinweg auch in den kommenden Wochen und Monaten fallen werden, als dass sich – von temporären Gegenbewegungen auch im Umfeld von Zinsentscheidungen oder Inflationsdatenpunkten abgesehen – ein dauerhaft steigender Renditetrend einstellt. Also doch gar nicht so unattraktiv – außer die konjunkturellen Abwärtsrisiken verschwinden wie von Geisterhand.