Xavier Bettel

„Ökologische Konjunktur­programme sollen die Wirtschaft anregen“

Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel will sein gesamtes Land auf Nachhaltigkeit ausrichten. Im Interview spricht er darüber, was das für Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Finanzmarkt bedeutet.

„Ökologische Konjunktur­programme sollen die Wirtschaft anregen“

Kai Johannsen.

Herr Premierminister Bettel, welche persönlichen Erfahrungen beziehungsweise Lehren nehmen Sie aus der Covid-19-Krise mit?

Ich denke, wir alle sind daran erinnert worden, in einigen Fällen leider recht schmerzhaft, dass nichts und niemand die Zeit ersetzen kann, die man mit den Menschen verbringt, die einem wichtig sind, egal ob das Familienangehörige oder Freunde sind. Viele von uns waren vor der Covid-19-Krise so damit beschäftigt, immer von einem Termin zum nächsten, von einem Platz zum anderen zu hetzen. Ich denke, die Pandemie hat viele dazu gezwungen, aus dem Hamsterrad auszusteigen und sich auf das zu konzentrieren, was im Leben am Wichtigsten ist: Zeit mit den Menschen zu verbringen, die einem am Herzen liegen. Für mich persönlich war und ist es aber auch beruflich gesehen die Zeit in meinem Leben, die am meisten von mir selbst fordert, und auch ich habe die Grenzen dessen, was man leisten kann, aufgezeigt bekommen. Die Krise ist für mich ohne Zweifel auch eine Zeit der Selbsterkenntnis.

Und welche Lehren ziehen Sie aus dieser Krise als Premierminister, der das Land durch die Pandemie bringen musste beziehungsweise immer noch bringen muss?

Die Pandemie ist nicht vorüber. Diese Krise wird uns noch weiter beschäftigen, und es wird Jahre dauern, bis wir die tatsächlichen Auswirkungen kennen. Ich kann aber bereits jetzt sagen, dass es eine klare Erkenntnis aus den vergangenen Monaten gibt: Es ist beeindruckend gewesen, wie ausgeprägt die Solidarität unter den Menschen gewesen ist und auch weiterhin ist. In der Hochphase des Lockdowns haben sich plötzlich überall Initiativen gegründet, um Mitmenschen zu helfen oder Nachbarn zu versorgen. Es war ein hartes Jahr für so viele Bürgerinnen und Bürger, und trotz allem hat jeder Einzelne unvergleichliche Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit gezeigt. Das Ausmaß der Solidarität zwischen jedem einzelnen unserer Bürger zu sehen, war für mich als Premierminister sehr bewegend und etwas, auf das ich sehr stolz bin.

Was bedeutet die Krise für das Thema Nachhaltigkeit/Sustainability ganz generell?

Unabhängig von der Covid-19-Krise ist die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaften eine globale Herausforderung. Die Covid-19-Krise zeigt uns, dass kein Land allein aus dieser Krise herauskommen kann. Die Pandemie hat die Notwendigkeit verdeutlicht und sogar verstärkt, die Umsetzung des Europäischen Grünen Deals und der Agenda 2030 der Vereinten Nationen als globalen Rahmen für nachhaltige Entwicklung aktiv voranzutreiben. Die Pandemie hat dargelegt, dass angesichts dieser beispiellosen Situation Kreativität gefordert ist. So setzt die luxemburgische Regierung sich dafür ein, der Covid-19-Krise und ihren sozioökonomischen Folgen mit bisher nicht gekannten Maßnahmen zu begegnen. Ökologisch ausgerichtete Konjunkturprogramme sollen die Wirtschaftstätigkeit anregen und einen Übergang zu einer widerstandsfähigen und klimaneutralen Ökonomie beschleunigen, die die Natur und ihre Ressourcen schont und für die Menschen ein lebenswertes Leben in einer gesunden Umwelt sicherstellt. In diesem Sinne wird die luxemburgische Regierung den nationalen Plan für nachhaltige Entwicklung und insbesondere den nationalen Klima-Energie-Plan und die nationale Strategie zur Kreislaufwirtschaft umsetzen. Luxemburg will außerdem die Digitalisierung der Wirtschaft beschleunigen – dies zum Wohle der ganzen Gesellschaft.

Was sind die Eckpfeiler der Nachhaltigkeitsstrategie des Großherzogtums Luxemburg?

Luxemburg hat seit Dezember 2019 seinen dritten Plan für nachhaltige Entwicklung. Er ist das Hauptinstrument zur Umsetzung der Agenda 2030 und der 17 Ziele der nachhaltigen Entwicklung, die die Weltgemeinschaft sich im September 2015 gegeben hat. Der Plan legt zehn prioritäre Handlungsfelder fest, zu ihnen gehören unter anderen die Diversifizierung hin zu einer integrativen und zukunftsfähigen Wirtschaft, die Gewährleistung nachhaltiger Finanzen, die Förderung nachhaltigen Konsums und Produktion, die Gewährleistung einer nachhaltigen Mobilität, die Planung und Koordinierung des Flächenverbrauchs oder auch die nachhaltige Energieversorgung. Auch das Wohl der Gesellschaft und des Einzelnen soll gestärkt werden, etwa durch die Gewährleistung der sozialen Inklusion und der Bildung für alle sowie durch die Sicherstellung der medizinischen Bedingungen für eine gesunde Bevölkerung. Auch auf globaler Ebene will Luxemburg zur Beseitigung der Armut und zur Kohärenz der Politiken für nachhaltige Entwicklung beitragen. Außerdem sieht der Plan Instrumente zur Stärkung einer verantwortungsbewussten Regierungsführung für nachhaltige Entwicklung vor.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen beziehungsweise Schwierigkeiten oder Probleme in den nächsten Jahren, wenn ein Land nachhaltig ausgerichtet wird?

Vor ein paar Wochen sind mehrere Länder in Mitteleuropa, darunter Deutschland, Belgien, Luxemburg und die Niederlande, von einer von den heutigen Generationen nie gekannten Flutkatastrophe erfasst worden. Seit Wochen herrscht in Nordamerika eine extreme Hitze mit verheerenden Bränden. Dies bedeutet schwere wirtschaftliche Schäden, aber vor allem unfassbar großes Leid für die betroffenen Personen. Es zeigt, dass die Klimakrise real ist und es umso dringender ist, dass wir handeln und den Klimawandel weiter bekämpfen. Es gilt also neben der Reduktion von CO2-Emissionen auch die Anpassung an den Klimawandel voranzutreiben. Größere Herausforderungen warten sowohl bei der Energie- als auch der Transportwende genau wie beim Übergang von einer linearen Wirtschaft hin zu einer Kreislaufwirtschaft, eine Veränderung, die lediglich dann gelingen wird, wenn alle Akteure an Bord sind und die Vorzüge erkennen, die ein verstärkter Ressourcenschutz mit sich bringt. Wie ich bereits unterstrichen habe, brauchen wir Maßnahmen, um den Übergang zu einer widerstandsfähigen, klimaneutralen und ressourcensparenden Ökonomie zu beschleunigen. Und wir müssen dies so gestalten, dass niemand zurückgelassen wird. Alle diese Herausforderungen – sei es im Bereich Klima, Biodiversität oder Verschmutzungen – werden nur dann gelingen, wenn sie sozial gerecht gestaltet werden – und als Chancen für mehr Lebensqualität, eine gerechtere Gesellschaft, nachhaltige Arbeitsplätze und eine widerstandsfähige Wirtschaft im Sinne des Green Deals gesehen werden.

Wo liegen aber zugleich auch die größten Chancen in Sachen Nachhaltigkeit in den nächsten Jahren, das heißt, wo lässt sich Ihrer Meinung nach schnell eine nachhaltige Wirkung erzielen?

Die französische Sprache kennt folgendes Sprichwort: ‚L’argent est le nerf de la guerre‘, also: ‚Geld ist der Nerv des Krieges‘. Ein wirksamer Kampf gegen den Klimawandel und hin zu einer nachhaltigen Entwicklung ist nur möglich, wenn die dazu nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Luxemburg spielt eine wichtige Rolle und hat als einer der führenden Finanzplätze Europas auch eine besondere Verantwortung bei der Mobilisierung von öffentlichem und privatem Kapital; dies um den sogenannten grünen Wandel zu finanzieren und die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen.

Und im Finanzbereich?

Luxemburg verfügt über eine langjährige Erfahrung und Erfolgsbilanz im Bereich der nachhaltigen Finanzen. Seit nunmehr über 15 Jahren widmet Luxemburg sich der Mikrofinanz und inklusiven Finanzen. Die weltweit erste grüne Anleihe wurde 2007 von der Europäischen Investitionsbank – EIB – in Luxemburg emittiert. Heute sind an der Luxembourg Green Exchange mehr als die Hälfte aller weltweit begebenen Green Bonds gelistet. Außerdem werden von Luxemburg aus mehr als 20% der weltweiten ESG-Fondsvermögen verwaltet.Im September 2020 veröffentlichte Luxemburg als erstes europäisches Land ein Rahmenwerk für nachhaltige Staatsanleihen und zählt somit auch hier zu den First Movers. Wir befolgen nicht nur die Prinzipien und Leitlinien der International Capital Market Association – ICMA –, sondern haben auch Zulassungskriterien integriert, die den Empfehlungen der EU-Taxonomie nach bestem Wissen entsprechen. Es war uns wichtig, mit der kurz darauf aufgenommenen 1,5-Mrd.-Euro-Anleihe zur Finanzierung von Umwelt- und Sozialprojekten ein Zeichen zu setzen, dass diese beiden Bereiche eng miteinander verflochten sind. Die Tatsache, dass die Investorennachfrage nach der Anleihe das Emissionsvolumen deutlich übertraf, zeigt darüber hinaus das große Interesse an Nachhaltigkeitsanleihen. Wir sprachen ja bereits von der Covid-Krise. 61% der Investitionen im Rahmen des luxemburgischen Konjunkturprogramms sind so für nachhaltige, klimafreundliche Projekte – Wohnungsbau, Elektrotransport, erneuerbare Energien, Naturpakt mit den Gemeinden – vorgesehen.

Luxemburg ist seit dem 29. Februar 2020 das erste Land weltweit, das einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr hat, was Teil der Nachhaltigkeits- beziehungsweise Klimastrategie des Landes ist. Welche Bilanz ziehen Sie aus diesem Projekt nach gut 1,5 Jahren?

Die Einführung des kostenlosen öffentlichen Personennahverkehrs ist vor allem eine doppelte soziale Maßnahme, die einerseits für Geringverdiener ein Plus im Geldbeutel bedeutet und andererseits, da durch Steuergelder finanziert, breite Schultern stärker belastet als schmale. Des Weiteren bietet das Thema einen guten Rahmen, das Augenmerk auf die nationale multimodale Mobilitätsstrategie Modu 2.0 zu richten. Der erste Covid-19-Fall in Luxemburg wurde am Tag der Einführung des kostenlosen ÖPNV festgestellt. Seitdem leben wir in einer sehr besonderen Zeit, auch in Bezug auf die Mobilität – Lockdown, Homeoffice et cetera. Es ist daher sehr schwierig, eine verlässliche Aussage zu machen. Generell ist es aber so, dass jedes neue Angebot im Zusammenhang mit dem ÖPNV unverzüglich angenommen wird. So lag die Zahl der Straßenbahnnutzer vor der Pandemie bei durchschnittlich 32000 pro Tag, fiel während des Lockdowns auf 1400 und ist im Juni 2021 auf 55000 pro Tag gestiegen. Dies ist sicherlich auch auf die Inbetriebnahme eines weiteren Straßenbahnabschnittes mit zusätzlichen Stationen zurückzuführen. In Bezug auf den motorisierten Verkehr in der Hauptstadt sind wir stolz darauf, dass insgesamt 1900 Busfahrten pro Tag durch die Inbetriebnahme des neuen Straßenbahnabschnitts auf derselben Strecke im Herzen der Stadt ersetzt wurden. Die Straßenbahn, eines der Vorzeigeprojekte unserer Mobilitätsstrategie, entlastet daher die Innenstadt erheblich und trägt dazu bei, die Stadt den Bürgern zurückzugeben und die Lebensqualität zu verbessern. Gleichzeitig erlebt das Radfahren in Luxemburg eine echte Renaissance. Ein jährliches globales Monitoring ist vorgesehen – nächster Termin ist März 2022.

Welche Nachhaltigkeitsprojekte schweben Ihnen in den kommenden Jahren noch vor, was würden Sie gern als Nächstes angehen beziehungsweise realisieren?

Die Umsetzung der erwähnten Strategien und Aktionspläne ist essenziell. Es ist mir wichtig, vielversprechende Synergien zu identifizieren und gleichzeitig mögliche negative Spillover-Effekte zu vermeiden. Kohärenz ist hier das Schlüsselwort. Wir werden konsequent unsere bestehenden strategischen Ausrichtungen weiterverfolgen, insbesondere in den Bereichen Kreislaufwirtschaft und Klimaschutz, um zu den Zielen der Europäischen Union zur Klimaneutralität bis 2050 beizutragen, wie auch künstliche Intelligenz und Digitalisierung. Die Digitalisierung wird in der Tat einen großen Einfluss auf unser Leben und die Entwicklung unseres Landes haben. Die Digitalisierung der Wirtschaft muss jedoch zugunsten der Bevölkerung und nicht auf Kosten der Umwelt geschehen. Digitalisierung ist nicht zwangsläufig Dematerialisierung. Wir wollen einen nachhaltigen digitalen Wandel sicherstellen. Auch wollen wir eine sichere und zuverlässige Transformation der Datenwirtschaft gewährleisten. Die Covid-19-Krise, aber auch die jüngsten Naturkatastrophen zeigen uns des Weiteren, dass die Entwicklung widerstandsfähiger strategischer Wertschöpfungsketten unabdingbar ist. Um dies und unsere langfristigen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, werden wir weiter eng mit allen Akteuren zusammenarbeiten.

Das Interview führte