„Wir erwarten nochmaligen Test der Jahrestiefs am Aktienmarkt“
Christopher Kalbhenn.
Herr Klude, befindet sich der Aktienmarkt Ihrer Einschätzung nach in der Nähe seines Bodens, oder sind noch weitere Tiefen zu befürchten?
Wir finden derzeit eine relativ komplizierte Gemengelage und eine enorme Diskrepanz am Markt vor. Einerseits haben sich die makroökonomischen Frühindikatoren in den zurückliegenden Monaten deutlich verschlechtert, und man muss davon ausgehen, dass wir in die Rezession schlittern. Andererseits haben wir immer noch eine vergleichsweise positive und zuversichtliche Kommunikation der Unternehmen, die noch nicht zu erkennen geben, dass sie sich große Sorgen machen. Diese Diskrepanz, dass Firmen für sich selbst die Dinge positiv bewerten, für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung aber skeptisch sind, muss sich auflösen.
Welche Signale gehen von der Quartalsberichtssaison aus?
Die Berichtssaison zum zweiten Quartal ist bislang zufriedenstellend ausgefallen. In den USA läuft sie etwas schlechter als in den vergangenen Quartalen, was die positiven Überraschungen betrifft. Zuvor haben 80 bis 90% der Unternehmen positiv überrascht, dieses Mal sind es etwas mehr als 70%. Das ist noch gut, aber weniger als in den Vorquartalen. Zudem ist das Ausmaß der positiven Überraschungen geringer geworden. In Europa sind die Quartalsberichte besser als in der Vergangenheit ausgefallen, hier hilft unter anderem der schwache Euro. Aktien haben nach der Vorlage von Zahlenwerken in der Regel zugelegt. Wir hatten eine Sommer-Rally. Die meisten Indizes haben um rund 10% zugelegt, die Nasdaq um 16%. Wir haben den Eindruck, dass sich die Anleger auf die positiven Aspekte konzentrieren und die negativen makroökonomischen Daten eher ausgeblendet werden.
Sind die Konsensgewinnschätzungen für den Dax zu zuversichtlich?
Derzeit erwartet der Konsens für dieses und nächstes Jahr ein Wachstum der Dax-Gewinne von gut 5% und rund 7%. Wir sind mit niedrigeren Raten in das Jahr gestartet, die Erwartungen für 2022 sind trotz der vielen Probleme hochrevidiert worden. Für 2023 sind sie in den vergangenen vier Wochen etwas gesenkt worden. Schaut man auf den gleitenden Konsens für die nächsten zwölf Monate, sieht es so aus, als ob wir am oberen Wendepunkt angelangt sind. Für ein negatives Konjunkturszenario sind die Gewinnschätzungen zu hoch, in einer Rezession geraten die Erträge meistens deutlich unter Druck. Wir erwarten deshalb, dass sie in den USA und in Europa nach unten revidiert werden. Die Erwartungen für die Vereinigten Staaten im nächsten Jahr sind sogar noch optimistischer, für den S&P 500 und den Dow wird ein Gewinnwachstum von 8 und 10% erwartet, für die Nasdaq fast 20%.
Was müsste geschehen, damit die derzeitigen Gewinnerwartungen doch einigermaßen erfüllt werden?
Der Pfad dafür ist schmal. Voraussetzungen wären, dass die Zentralbanken nicht ganz so stark auf die Bremse treten müssen, weil die Inflation schnell und deutlich zurückgeht, und dass es ein Soft Landing gibt. Dann könnte man sagen, dass die Gewinnschätzungen ein wenig zu hoch sind, aber nicht deutlich zu hoch.
Profitieren die Unternehmen denn nicht von der hohen Inflation?
Man darf nicht vergessen, dass Unternehmensgewinne eine nominale Größe sind. Wenn die Unternehmen Preise erhöhen können, bieten Aktien auch einen Inflationsschutz. Das ist aber die Crux. Im Moment freuen sich die Anleger, dass Unternehmen gut berichten, weil sie eben Preise erhöhen können, wodurch Umsatz und Gewinne positiv beeinflusst werden. Aber wenn sie das auch weiterhin tun, bleibt die Inflation hoch und die Zentralbanken müssen die Zinsen weiter erhöhen. In den vergangenen Wochen sind die Marktteilnehmer bei diesem Thema zu optimistisch geworden.
Wie lautet die Prognose ihres Hauses für den Dax?
Wir haben unsere Prognose im Frühjahr zweimal, nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und als sich die makroökonomischen Daten eintrübten, gesenkt. Zum Jahresende prognostizieren wir den Dax jetzt mit 13600 Punkten. Wir erwarten für die nächsten Wochen einen nochmaligen Test der Jahrestiefs um 12400 Punkte. Ob die Tiefs gehalten werden können, wird dann der Lackmustest sein. Wenn nicht, verschlechtert sich auch die technische Situation. Dann müsste die Prognose noch einmal überarbeitet werden. Der Schlüssel liegt unserer Einschätzung nach bei der Fed, die im September wieder tagen wird. Der Markt hat nach der letzten Fed-Sitzung eingepreist, dass die Zinsen in diesem Jahr weniger stark angehoben werden müssen, als man zunächst glaubte, und dass es schon im nächsten Jahr zu Zinssenkungen kommen wird. Für dieses Vorgehen braucht man nun aber auch klare Indizien. Stellen sich keine Anzeichen dafür ein, kommt wahrscheinlich noch einmal Druck auf den Markt.
Was geschieht, wenn es zu einer weiteren Verschärfung der Gaskrise beziehungsweise einer Einstellung der Lieferungen Russlands und damit auch zur Gasrationierung kommt?
Dann müsste man davon ausgehen, dass eine Rezession nicht mehr abzuwenden ist. Die Befürchtung spiegelt sich bereits in Frühindikatoren wie dem Ifo-Index wider. Die Umfragen zeigen, dass die Unternehmen eine Gasknappheit erwarten. Letztlich ist eine solche Entwicklung zu einem Teil bereits im Aktienmarkt eingepreist. Ob es wirklich zu einer Rationierung kommt, hängt aber von vielen Unbekannten ab: Wie lang und wie kalt wird der Winter? Kann der Verbrauch reduziert werden? Bekommen wir zusätzliches Gas aus anderen Ländern?
Was sollten Investoren in dieser schwierigen Situation Ihrer Meinung nach tun?
Wir sind, was die taktische Allokation betrifft, in Aktien leicht untergewichtet. Unseren Kunden haben wir dazu geraten, nicht die Reißleine zu ziehen und alle Aktien zu verkaufen. Jede Krise bringt für Anleger mit einem langfristigen Horizont Chancen. Krisen werden von Unternehmen genutzt, um unter anderem technische Innovationen voranzutreiben und sich neu aufzustellen. Sie legen die Basis für langfristig positive Entwicklungen. Genau genommen ist es für alle Anleger interessant, eher bei 13000 als bei 16000 Dax-Punkten zu investieren. Wir glauben auch, dass die Zyklen weiter Bestand haben werden, so dass sich der Markt spätestens auf Sicht von zwei oder drei Jahren wieder erholen wird. Es könnte auch früher geschehen, sofern es zu einem Soft Landing kommt. Unserer Meinung nach liegt die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios jedoch unter 50%. Stünde ein Soft Landing bevor, wären wir am Aktienmarkt bereits jetzt in der Bodenbildung.
Welche Bereiche des Aktienmarktes bevorzugen Sie?
Wir bevorzugen alles, was defensiv ist. Die defensiven Bereiche haben sich in den zurückliegenden Wochen zwar relativ schlecht entwickelt. Aber das sind die Branchen, denen wir für die Zeit bis zum Jahresende die besten Chancen einräumen. Die zyklischen Branchen sehen wir dagegen eher kritisch. Dort sind die Bewertungen zwar günstig, aber nur optisch, weil die Gewinnerwartungen hier noch hoch sind. Für eine positivere Haltung zu Zyklikern bräuchten wir handfeste Anzeichen dafür, dass es nur zu einer leichten wirtschaftlichen Verlangsamung kommt. Wir bevorzugen zudem Aktien von Unternehmen, die über Preismacht verfügen, die also in der Lage sind, ihre gestiegenen Kosten an die Kunden weiterzureichen. Dazu zählen wir Unternehmen aus den Branchen Rohstoffe und Konsumgüter des alltäglichen Bedarfs.
Wie stehen Sie zu Technologieunternehmen?
Technologiewerte müssen differenziert betrachtet werden. Die Aktien der etablierten Technologieunternehmen kann man auch in der jetzigen Phase im Portfolio halten. Auch wenn die Kursschwankungen bei diesen Aktien zum Teil enorm waren, verfügen diese Firmen über bewährte und krisenresistente Geschäftsmodelle. Aktien von Unternehmen, bei denen weit in der Zukunft liegende Gewinne eingepreist werden, werden dagegen weiterhin Probleme haben.
Das Interview führte