Der Kampf um Windmühlen
Für das Klima war Scharm El-Scheich eine Katastrophe. Darin sind sich Wissenschaftler, Klimaaktivisten und auch Vertreter der Wirtschaft einig. Das Format der Weltklimakonferenzen sei überholt, meint beispielsweise der führende Klimaexperte Mojib Latif. Die stärkere Minderung der Treibhausgasemissionen ist nach allgemeiner Meinung im Gestrüpp der vielfältigen nationalen Interessen hängengeblieben.
Unternehmen allerdings schauen schon lange nicht mehr primär auf die Gipfel. Die Zeit zwischen den Konferenzen ist für sie entscheidend. Handeln statt reden, heißt die Devise in den Führungsetagen.
Dass der Willen hierzu vorhanden ist, zeigt eine Anfang November veröffentlichte Umfrage von Barclays bei 150 Unternehmen weltweit („Deep demand for decarbonisation“), deren zentrale Erkenntnis die Autoren sogar in Versalien hervorheben. „Das Tempo der Dekarbonisierung in ALLEN Unternehmen, mit denen wir gesprochen haben, beschleunigt sich eher, als dass es sich als Reaktion auf die jüngste Energiekrise und die hohen Energiepreise verlangsamt.“ Die Schlussfolgerung der nicht repräsentativen Erhebung: „Unsere Arbeit zeigt, dass es eine Nachfrage nach kohlenstofffreien Produkten gibt und dass diese Nachfrage schnell wachsen wird.“
Die Gretchenfrage lautet: Steht überhaupt die grüne Energie in nötigem Volumen zur Verfügung, damit die Wirtschaft die – dann vielleicht nur noch vermarktbaren – eigenen klimafreundlichen Produkte herstellen kann? Schließlich befriedigen Wind, Solar und Wasserkraft aktuell nur gut ein Zehntel der weltweiten Energienachfrage (siehe Grafik).
Habeck hört die Signale
Deutschland erlebt seit Jahren, dass sich Windräder und Stromtrassen nicht beliebig aus dem Boden stampfen lassen. Neu allerdings ist, in welcher Lautstärke nun auch die Energiewirtschaft Alarm schlägt. Die Botschaft der Kraftwerks- und Windradbauer: Wenn Politik und Gesellschaft nicht im nächsten Jahr handeln, sind die CO2-Minderungsziele bis zum Jahr 2030 schon verpasst – und die Fähigkeit Europas, überhaupt die benötigte Technologie zu liefern, ist in Konkurrenz zu China und den USA gefährdet.
Purer Lobbyismus? Trommeln gehört zum Handwerk. Aber ein Treffen, das weit weniger Schlagzeilen produzierte als das Großereignis in Scharm El-Scheich, zeigt, wie brisant das Thema ist. Am Montag dieser Woche nahm sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Zeit für Vertreter der Windindustrie, der Solar-Anlagenhersteller sowie der Netzbetreiber. Sein Statement nach diesem zweiten sogenannten Produktionsgipfel: Der Staat prüft, ob er Bestellungen von Windrädern und Solaranlagen absichern wird. Derartige Produktions- und Abnahmegarantien hätten auch das Ziel, die industrielle Fertigung von Anlagen in Deutschland wiederaufzubauen, erklärte Habeck. Die Hersteller investierten erst, wenn die Aufträge direkt da seien: „Dieses Abwarten allerdings können wir uns wiederum nicht leisten, weil es dazu führen wird, dass die Produktion an einer anderen Stelle der Welt stattfindet.“
Kernforderung Planbarkeit
Dies passt zur Argumentation von Siemens-Gamesa-Chef Jochen Eickholt, der auf der Bilanzpressekonferenz im November Subventionen für die europäischen Windanlagenbauer forderte. „Ich würde den EU-Politikern raten, ähnliche Stützungsmaßnahmen für die notleidende Windindustrie einzuführen wie in den USA“, sagte er. Die Windanlagenbauer seien unverzichtbar für die Gesellschaft und eine entscheidende Stütze des künftigen Energiesystems.
Dies hat der spanisch-deutsche Konzern, der aktuell von Siemens Energy vollständig übernommen wird, in einem Positionspapier untermauert. 300000 Menschen beschäftige die Branche direkt und indirekt, wird vorgerechnet in „Why we need the European wind industry – and how to safeguard it“. Allein in Deutschland seien in den vergangenen sechs Jahren 37000 Arbeitsplätze in dem Sektor verloren gegangen. Brüssel wolle in dem Plan „Repower EU“ 39 Gigawatt Windenergie jährlich bis 2030 installiert sehen. Im Jahr 2021 seien aber nur 11 Gigawatt gebaut worden, es folgten nach aktueller Pipeline 19 Gigawatt per annum in den nächsten fünf Jahren.
Eickholt wünscht nicht nur, dass regionale Produktion einen Wert erhält gegenüber dem Preiswettbewerb chinesischer Anbieter, sondern er fordert auch eine Projektpipeline, die mindestens fünf Jahre im Voraus planbar ist: So könnten Hersteller und Zulieferer neue Kapazitäten planen, heißt es in dem Positionspapier.
Christian Bruch, Vorstandsvorsitzender von Siemens Energy, ist sich sicher: „Wir brauchen Windenergie mit aller Gewalt, um die Energiewende erfolgreich zu machen.“ Auch er sorgt sich um die Fortschritte im Kampf gegen den Klimawandel. „Wir sind auf der Autobahn mit Vollgas unterwegs, unsere Ziele alle zu verpassen“, sagte er auf der Energy-Bilanzpressekonferenz. 2021 sei ein Rekordjahr mit CO2-Emissionen gewesen: „Es ist dringend notwendig, in diesem Jahr entsprechende Maßnahmen umzusetzen.“ Als gutes Zeichen der Klimakonferenz wertete er es, dass zum ersten Mal mehr Industrie eingebunden gewesen sei.
Für den Ausbau der erneuerbaren Energie müsse die Diskussion über schnellere Genehmigungen nun Konsequenzen haben. „Wir hören es, wir sehen es halt noch nicht“, bemängelte Bruch fehlende Fortschritte. Zu kurz komme auch eine erhöhte Energieeffizienz. Ein weiteres Thema sei: „Netzeausbau, Netzeausbau, Netzeausbau.“ Die Strommenge weltweit werde sich in den nächsten zehn bis 20 Jahren verdoppeln oder verdreifachen: „Wir werden mehr Netze brauchen und mehr Netzstabilität.“
Lange habe keiner akzeptieren wollen, dass man Elektronen nicht in Eimern transportiere, sondern in Leitungen, sagte Bruch. „Auf einmal wacht jeder auf“, und zwar sowohl in Amerika als auch in Europa. Die Branche werde an Limitierungen beim Netzausbau stoßen. Diese Diskussion führe man seit Monaten mit der Bundesregierung. In der Branche wird eine klar kommunizierte Staffelung von Projekten angeregt.
Ebenfalls wichtig aus Sicht des Vorstandsvorsitzenden sind die Lieferketten. 60% der Materialien für die Energiewende kämen heutzutage aus China. Auch in Richtung USA müsse Europa aufmerksam sein, mahnt Bruch. Mit dem „Inflation Reduction Act“ (vgl. BZ vom 17. November) bestehe die Gefahr, dass sich die Wasserstoffindustrie jenseits des Atlantiks ansiedele: „Das Risiko der Abwanderung in die USA ist absolut da.“ Wenn dort die Infrastruktur aufgebaut sei, könne man sie nicht zurückholen – „die ist weg“.
Von Michael Flämig, München