Die EZB legt sich mit den Banken an
Die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB), die lukrativen Zinsgeschäfte für Banken zu beschneiden, erregt die Gemüter. James von Moltke, Finanzvorstand der Deutschen Bank zeigt sich „zutiefst enttäuscht“ darüber, dass die Bedingungen eines geldpolitischen Instruments in einem Volumen von mehr als 2 Bill. Euro rückwirkend geändert werden. Es sei ein „spektakulärer Mulligan“, so der Australier mit deutschen Wurzeln in einer Telefonkonferenz mit Anleiheinvestoren. Golfspieler wissen, dass ein Mulligan die gängige, nach dem offiziellen Regelwerk jedoch nicht zulässige Praxis ist, einem Spieler nach einem völlig verpatzten Schlag eine straffreie Wiederholung anzubieten. Dass sich die EZB diese Freiheit nimmt, zwinge die Branche dazu, die Zuverlässigkeit langfristiger Instrumente zu hinterfragen, ergänzte er säuerlich. Auch die Commerzbank will die Entscheidung zwar akzeptieren, schiebt aber den Seitenhieb hinterher, dass „die rückwirkende Änderung von Vertragsbedingungen nicht vertrauensbildend ist“. Ähnlich pikiert klingen Protestnoten aus diversen Bankenverbänden. Sparkassenpräsident Helmut Schleweis wirft der Notenbank mehr oder minder offen Vertragsbruch vor.
Für Geschäftsbanken wie Zentralbanken im Euroraum geht es um Milliarden – und um ihre Reputation. Die einen stehen plötzlich als kalte Krisenprofiteure da, weil sie ohne Risiko satte Gewinne aus Zinsgeschäften mit den Notenbanken einstreichen. Beobachter ziehen Parallelen zu „Übergewinnen“ von Energiekonzernen wegen des Gaspreisschocks, was Gegenstand heftiger Debatten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist. Die anderen stehen in der Kritik, Banken zu subventionieren und dadurch schlimmstenfalls Steuergeld aufs Spiel zu setzen.
Das ohnehin komplizierte Verhältnis der deutschen Banken zur Europäischen Zentralbank (EZB) steht vor einer neuerlichen Belastungsprobe. Wer die Finanzbranche für verkommen hält, für den sind die Fronten klar: Sie verläuft zwischen den raffgierigen Bankern, die aus jedem Schlupfloch buchstäblich Kapital zu schlagen wissen, und den inkompetenten Notenbankern, die sich ausnutzen lassen und ihren Job nicht im Griff haben. Und in der Mitte der Steuerzahler, der mal wieder die Zeche zahlen muss.
So überzogen diese Sichtweise ist, steckt doch auch in diesen Vorurteilen ein Körnchen Wahrheit. Aber der Reihe nach: Die Wurzel allen Übels liegt in den von Panik und Marktverwerfungen geprägten Anfangswochen der Coronakrise. Um eine Kreditklemme zu vermeiden, legte der EZB-Rat ein Refinanzierungsprogramm zu extrem vorteilhaften Konditionen auf, im Fachjargon TLTRO. Die einzige Bedingung: Die teilnehmenden Banken sollten den Kreditfluss an Unternehmen aufrechterhalten, um die Konjunktur zu stabilisieren. Die von mehr als einem Jahrzehnt Krise gezeichneten Banken ließen sich erwartungsgemäß nicht lange bitten, sich mit Liquidität vollzusaugen. Als sich die Wogen ein wenig geglättet hatten, zweifelten jedoch nicht wenige an der volkswirtschaftlichen Zweckmäßigkeit des Instruments. Bettina Orlopp, Finanzvorständin der Commerzbank, brachte die Kritik Ende 2021 in einem Interview der Börsen-Zeitung auf den Punkt, als sie sagte, dass die Commerzbank ohne TLTRO vermutlich nicht weniger Kredite vergeben hätte. Das Problem war nach ihrer Darstellung nicht die Möglichkeit, sich günstig zu refinanzieren: „Die Nachfrage nach Krediten ist schlichtweg nicht so groß, wie wir sie gerne hätten.“
Zu den grundsätzlichen Zweifeln gesellt sich nun ein völlig verändertes Zinsumfeld. Die rapiden Zinserhöhungen von in Summe bereits 2 vollen Prozentpunkten seit Juli dieses Jahres hat bei der Auflage der Geschäfte im Jahr 2020 niemand kommen sehen. Im Ergebnis streichen die Banken nun satte Gewinne ein, indem sie das überschüssige Geld zu stark steigenden Zinsen einfach bei den Notenbanken parken. Die Sonderkonditionen aus der Krise wirken für die Notenbanken plötzlich wie ein Bumerang.
Deshalb hat der EZB-Rat die Konditionen zum Nachteil der Banken verändert. Es gehe darum, reine Mitnahmeeffekte einzuschränken, sagt der Finanzprofessor Jan Pieter Krahnen. Dieses Phänomen ist beileibe nicht auf Deutschland beschränkt. Absolut gesehen haben hiesige Banken zwar den größten Batzen an Überschussliquidität in den Büchern. Doch bei den speziellen Corona-Krisenhilfen haben französische und italienische Banken noch kräftiger zugeschlagen (siehe Grafik).
Hätte die EZB nichts unternommen, könnten die Banken in Summe zig Milliarden Euro an Extragewinnen realisieren. Grobe Schätzungen reichen von knapp 30 Mrd. Euro bis zu 70 Mrd. Euro – je nachdem, wie stark die Leitzinsen noch steigen. Denn großteils sind die TLTRO-Geschäfte bis Mitte 2023 und teilweise sogar bis Ende 2024 angelegt. Die EZB musste also dringend handeln – schon aus Eigeninteresse.
Denn wegen der Zinswende gehen die Zentralbanken erhebliche Risiken ein, wie Bundesbankchef Joachim Nagel betont. In einer Rede wies er kürzlich auf den hohen Bestand an niedrigverzinslichen Wertpapieren mit teils sehr langer Restlaufzeit hin, die sich über die Jahre durch die billionenschweren Anleihekäufe angesammelt haben: „Denen gegenüber stehen auf unserer Bilanz hauptsächlich kurzfristige Einlagen der Geschäftsbanken.“ Wegen der steigenden Verzinsung stellte Nagel seine Zuhörer auf „mögliche Verluste“ ein. Dass Nagel diese Rede in Berlin hielt, dürfte kein Zufall sein, stehen doch Folgen für die Staatskasse zu erwarten. Um Verluste zu decken, stehen zunächst die Rückstellungen in der Bundesbank-Bilanz als Puffer zur Verfügung. Und danach? Das skizziert Nagels Kollege Klaas Knot aus den Niederlanden in einem Brief an das dortige Finanzministerium, aus dem die Nachrichtenagentur Reuters zitiert: „In einem Extremfall könnte eine Kapitalzuführung seitens des niederländischen Staates notwendig sein.“ Im Klartext: Der Steuerzahler müsste einspringen.
Der frühere Wirtschaftsweise Volker Wieland hält das zwar für unwahrscheinlich. Schließlich könnten Notenbanken sogar mit negativem Eigenkapital operieren. Den Bundeshaushalt wird es trotzdem belasten: Jahrzehntelang konnten die Finanzminister mit einer Überweisung aus Frankfurt rechnen. Diesmal muss Finanzminister Christian Lindner (FDP) wegen der sich abzeichnenden Verluste für die Bundesbank wohl verzichten.
Bankenkritiker wie die Nichtregierungsorganisation Finanzwende stilisieren die TLTRO-Problematik derweil zu einer Gerechtigkeitsfrage. Während „Banken massiv Profite aus der Krise schlagen“, litten Steuerzahler unter hohen Reallohnverlusten und explodierenden Energiepreisen. Den „Stopp der TLTRO-Bankensubventionierung“ hält die Bürgerbewegung Finanzwende für „überfällig“.
Kritik am Mulligan der EZB ist derweil nicht nur von den Privatbanken zu hören, deren Verband befürchtet, dass die nachträgliche, einseitige Änderung der Vertragskonditionen das Vertrauen der Finanzmarktteilnehmer in die Notenbanken als Geschäftspartner beschädigen könnte. Ins selbe Horn stößt Marija Kolak, Präsidentin des genossenschaftlichen BVR: Die nachträgliche Änderung werfe Fragen nach der Verlässlichkeit auf. Sparkassen-Präsident Schleweis sagt, die Sparkassen hätten sich auf die vertraglich festgelegten Konditionen verlassen und diese auch in die Kreditkonditionen gegenüber ihren Kunden einfließen lassen.
Tatsächlich ändert die EZB mit wenigen Wochen Vorlauf ihre Geschäftsbedingungen. Für die Banken wird es bald teurer, Geld aus den TLTRO-Operationen bis zur Fälligkeit zu halten, weshalb der Beschluss als rechtlich angreifbar gilt. Bankenexperte Krahnen bemängelt, dass die EZB es versäumt hat, von Anfang an einen „Notausgang“ in die TLTRO-Verträge einzubauen für den Fall, dass sie die Leitzinsen unerwartet rasch anheben muss.
Auf die Rechtsrisiken angesprochen, sagte EZB-Chefin Christine Lagarde in der Pressekonferenz, dass man das Risiko von Rechtsstreitigkeiten sorgfältig berücksichtigt habe. Dabei verzog die international erfahrenen Juristin, die in ihrem früheren Leben vor der Politik Chefin der Kanzlei Baker McKenzie war, keine Miene. Doch ihre Aussage ist bemerkenswert, räumt sie damit doch ein, dass die EZB sich auf dünnem Eis bewegt. Das hat den EZB-Rat von seiner Entscheidung nicht abgehalten, obwohl er andere Optionen hatte – etwa einen Staffelzins für Einlagen bei den Notenbanken. Die beschlossene Lösung sei verhältnismäßig und am effizientesten, sagte Lagarde, ohne sich auf eine Debatte über leistungslose Zinsgewinne und die Profitabilität der Banken einzulassen. Oberstes Gebot der Beschlüsse sei die ungestörte Wirkung der Geldpolitik, die sogenannte Transmission. Punkt.
„Nachträgliche Besteuerung“
Lorenzo Bini Smaghi ist da durchaus skeptisch. Der Italiener, der von 2005 bis 2011 dem für die Leitung der Tagesgeschäfte zuständigen EZB-Direktorium angehörte, ist heute Chairman der französischen Bank Société Générale. In den vergangenen Jahren hat Bini Smaghi die Politik der EZB immer wieder vehement verteidigt. Jetzt sieht er die Glaubwürdigkeit der EZB in Gefahr. Die Zentralbanken des Eurosystems seien offenbar um ihre eigene Rentabilität besorgt, was nicht zu ihrem Auftrag gehört: „Das hat nichts mit der Geldpolitik zu tun und kann durch die zunehmende Fragmentierung sogar Probleme für die Transmission der Geldpolitik schaffen.“ Bini Smaghi befürchtet Störungen am Geldmarkt und negative Folgen für die Euro-Wirtschaft: „Das kommt einer nachträglichen Besteuerung der Banken gleich, was bedeutet, dass weniger Kapital zur Unterstützung der Kreditvergabe an die Wirtschaft zur Verfügung steht.“
Wie gut es der EZB gelingt, die Banken zur vorzeitigen Rückzahlung zu bewegen, ist offen. Ökonomen rechnen mit bis zu 1,3 Bill. Euro, die vor allem von Banken aus Ländern mit hoher Überschussliquidität wie Deutschland, Frankreich und den Niederlanden kommen könnten. So recht in die Karten schauen lassen will sich kaum ein Institut. Einigen Banken, so heißt es in der Branche, könnten erhebliche Zusatzkosten entstehen, wenn sie die für TLTRO-Geschäfte getroffenen Absicherungen auflösen. In diesen Fällen könnte der Rechtsweg geboten sein, auch wenn sich bislang noch kein Institut aus der Reserve gewagt hat.