Für die Türkei steht viel auf dem Spiel
Dieses Urteil schlägt weit über die Türkei hinaus Wellen: Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu ist zu mehr als zwei Jahren Haft samt Politikverbot verurteilt worden. Der Grund: Beamtenbeleidigung. Das Urteil gilt als politisch motiviert, denn es kommt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gelegen: Wenige Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die spätestens Mitte Juni 2023 anstehen, ist Erdogan einen seiner Hauptwidersacher los. Sogar das US-Außenministerium mischt sich ein, zeigt sich „zutiefst beunruhigt und enttäuscht“ über das Urteil und beklagt „anhaltende gerichtliche Schikane von Vertretern aus Zivilgesellschaft, Medien, Politik und Wirtschaft“ in der Türkei.
Auch unter Analysten sorgen die Wahlen längst für reichlich Gesprächsstoff. Sie gelten als eines der politischen Großereignisse des Jahres. Es ist keine Übertreibung, diese Wahlen als schicksalsträchtig zu bezeichnen. In erster Linie betrifft das natürlich die von verheerender Inflation und politischer Spaltung geprägte türkische Gesellschaft. Aber auch im Verhältnis zu den internationalen Finanzmärkten, denen Erdogan in Wort und Tat den Krieg erklärt hat, steht in den kommenden Monaten viel, wenn nicht alles auf dem Spiel.
In einem von Manipulationsvorwürfen umwitterten Referendum hatte Erdogan 2017 seine Macht ausgebaut, ehe die Wähler ihn 2018 im Amt des Staatspräsidenten bestätigten. Mit dem Wechsel zum Präsidialsystem sind Befugnisse vom Parlament auf den Staatschef übergegangen, die Justiz ist geschwächt. Das hat es Erdogan erleichtert, der Türkei sein in Teilen krudes Weltbild aufzuzwingen – gerade in der Wirtschafts- und Geldpolitik.
In wichtigen Institutionen haben Gefolgsleute das Sagen. Die Notenbank liefert gegen jede Vernunft Zinssenkungen auf Bestellung, auch der Statistikbehörde ist nicht mehr zu trauen. Das Ergebnis: Die Inflation ist heillos außer Kontrolle geraten, die Landeswährung Lira von einem Tief zum nächsten gestürzt. Kaufkraft und Ersparnisse der Bevölkerung verlieren dramatisch an Wert. Am türkischen Aktienmarkt hat sich eine gigantische Blase gebildet, weil viele an der Börse Zuflucht vor der Geldentwertung suchen.
Vom Auftrag Preisstabilität hat sich die Notenbank verabschiedet. Mangelnden Einfallsreichtum kann man ihr und dem Finanzministerium hingegen nicht vorwerfen. Banken und Unternehmen zwingen sie mit kreativen Vorschriften, von Dollar auf Lira zu wechseln. Sparern versprechen sie mit speziellen Lirakonten staatlichen Schutz gegen Wechselkursverluste. Sie spannen Staatsbanken ein, um diskret am Devisenmarkt zu intervenieren. Und schließen dafür fleißig Devisentauschabkommen mit benachbarten Notenbanken ab, damit die Fremdwährungsreserven nicht versiegen. Alles mit dem Ziel, die Lira zu stützen – und dafür bloß nicht die Leitzinsen erhöhen zu müssen. Der Zinsentscheid am Donnerstag tut da im Prinzip nichts mehr zur Sache: Auf Geheiß Erdogans ist der Leitzins schon wieder einstellig – bei offiziell mehr als 80% Inflation. Die Analysten haben ihr Urteil ohnehin gefällt.
Die kommenden Monate dürften von wildem Aktionismus geprägt sein. Wenn die Wahl näher rückt, erwarten Analysten einen weiteren Schwung von Zinssenkungen, damit der vom Tourismus getragene und von Krediten befeuerte Aufschwung nicht auf den letzten Metern abebbt. Dazu passt ein Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg, wonach das türkische Finanzministerium ein umgerechnet circa 8 Mrd. Dollar schweres Sonderkreditpaket auflegen will. Es darf auch nicht überraschen, wenn die Regierung im Frühjahr den Mindestlohn ein weiteres Mal deutlich anhebt. Der Ausweg aus galoppierender Inflation sind solche Vorwahlgeschenke sicher nicht – aber sie erkaufen Zeit bis zum Wahltag.
Wenn es nach der Opposition geht, soll im Sommer Schluss sein mit der unkonventionellen Wirtschafts- und Währungspolitik unter Erdogans Dauerherrschaft, die nach seinen mehr als 20 Jahren an der Macht immer mehr autokratische Züge angenommen hat. Sechs Parteien haben sich gegen Erdogan verbündet, darunter die größte Oppositionspartei CHP von Istanbuls Oberbürgermeister Imamoglu.
Gemeinsam treten sie mit dem Versprechen an, die Verfassungsreformen von 2017 in Teilen zu revidieren. Sie wollen Demokratie und Rechtsstaat stärken, indem sie dem Parlament Befugnisse zurückgeben und die Unabhängigkeit der Justiz stärken. Ekrem Imamoglu ist als gemeinsamer Präsidentschaftskandidat wohl aus dem Rennen. Aber es gibt noch einige andere, die Erdogan gefährlich werden können.