Aufschwung voller Widersprüche
Von Peter De Thier, Washington
Seit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie hat sich die Erholung am US-Arbeitsmarkt mit einem Tempo vollzogen, das während der Gesundheitskrise die wenigsten Ökonomen für möglich gehalten hatten: Im April 2022, also exakt zwei Jahre, nachdem die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten 14,7% erreicht hatte und in nur einem Monat 20,5 Millionen Jobs vernichtet worden waren, könnte mit einer Quote von 3,5% wieder Vollbeschäftigung erreicht sein. Damit ist ein Teilauftrag des dualen Mandats der US-Notenbank Fed erfüllt, deren Aufgaben darin besteht, „maximale Beschäftigung und Preisstabilität“ sicherzustellen. Gleichzeitig verstärkt der Aufschwung den Lohndruck, der seinerseits auch die Inflation befeuert und für die Fed eine zusätzliche Herausforderung darstellt.
Ob die Arbeitslosenquote von 3,6% im März tatsächlich um 0,1 Prozentpunkte zurückgegangen ist und somit auf den niedrigsten Stand seit Februar 2020, wird das Bureau of Labor Statistics (BLS) nächste Woche Freitag bekanntgeben. So oder so hat der beeindruckende Aufschwung für die Fed den Vorteil, dass sie sich in einer Phase außerordentlich hoher Inflation darauf konzentrieren kann, die Preissteigerungen in den Griff zu bekommen.
Zugleich wirft die Stärke des Arbeitsmarkts Fragen auf, die sich mit den Statistiken des BLS allein nicht beantworten lassen: Wie kann es zum Beispiel angehen, dass im März 11,3 Millionen Stellen offen blieben, gleichzeitig aber 6 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter keine Beschäftigung haben? Und dass die Zahl jener im erwerbsfähigen Alter, die keine Arbeit suchen, um 5 Millionen über dem Vorkrisenniveau liegt? Welche Möglichkeiten haben die Politiker und die Notenbank, um diese Schräglage zu korrigieren?
Strukturelle Veränderungen
Das Missverhältnis lässt sich nach Ansicht von Experten vor allem darauf zurückführen, dass die Pandemie zu fundamentalen, strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt geführt hat. Wie aus einer Studie des Forschungsinstituts ADP hervorgeht, fallen bei Arbeitnehmern neben der Höhe der Vergütung zunehmend qualitative Faktoren ins Gewicht. Wie die Befragung ergab, spielen Faktoren wie Arbeitsstress, emotionales und physisches Wohlbefinden und die Flexibilität sowie die Mobilität des Arbeitsplatzes eine zunehmend wichtige Rolle. „Die Wirtschaft hat sich in dieser Hinsicht einem grundlegenden Wandel unterzogen“, stellt der frühere Notenbankvorsitzende Ben Bernanke fest. „Arbeitnehmer ringen mit der Frage, wo sie arbeiten und wie sie arbeiten wollen“, so der ehemalige Fed-Chef.
Andere Aspekte sind leichter zu quantifizieren. So lässt sich die Schieflage zwischen offenen Stellen und beschäftigungslosen Personen im erwerbsfähigen Alter auch damit begründen, dass sich das Stellenwachstum seit dem Ende der Corona-Lockdowns auf andere Branchen verlagert hat als vor der Krise. So sind im Bildungs- und Gesundheitswesen mehr als 1,6 Millionen Positionen unbesetzt. Vor der Krise arbeiteten in der Branche aber nur etwas mehr als 1 Million Menschen. Ein ähnliches Missverhältnis ist bei Fachdienstleistern sowie in der Gast- und Freizeitindustrie zu beobachten und in deutlich geringerem Umfang im verarbeitenden Gewerbe.
Ein weiterer Faktor, der zu Buche schlägt, ist die hohe Ersparnisbildung während der Pandemie. Als die Krise ihren Höhepunkt erreichte, kletterte die Sparquote der US-Haushalte von etwa 7 auf 33%. Erst in jüngster Zeit ist sie auf das Vorkrisenniveau zurückgegangen. Viele Berufstätige konnten sich daher leisten, früher als ursprünglich geplant in Rente zu gehen. Das liegt neben den hohen Ersparnissen auch an dem Wertzuwachs ihrer Investment-Portfolios und des Kapitals, das im Eigenheim gebunden ist und wegen der steigenden Immobilienpreise exorbitante Steigerungen aufwies.
Phänomen Great Resignation
Folglich haben sich seit dem Ausbruch der Pandemie 2 Millionen mehr Menschen aus dem Berufsleben zurückgezogen, als Ökonomen vor der Krise vorausgesagt hatten. Berücksichtigt man dann auch jene alternden Vertreter der Baby-Boomer-Generation, die zu Beginn dieser Dekade ohnehin das Rentenalter erreicht haben, sind die vielen offenen Stellen auf einmal plausibel.
Um der Entkoppelung der über 11 Millionen vorhandenen Jobs von den 6 Millionen Arbeitssuchenden entgegenzuwirken, sind die Möglichkeiten der Notenbank begrenzt. Zur Tat schreiten vielmehr Unternehmen selbst, die in vielen Branchen bessere Bezahlung bieten als vor der Pandemie und häufig sogar mit Antrittsboni versuchen, potenzielle Mitarbeiter aus der Reserve zu locken.
Regierung sucht Antworten
Helfen können aber auch Politiker. So könnten Umschulungs- und Fortbildungsprogramme, die den Wechsel in eine neue Branche ermöglichen, mit steuerlichen Vergünstigungen oder staatlichen Subventionen gefördert werden. Präsident Joe Bidens „Build Back Better“-Gesetz hätte 33 Mrd. Dollar für Ausbildungsinitiativen freigegeben, insbesondere im Bereich erneuerbarer Energien. Wie das Center for Budget and Policy Priorities schreibt, hätte das Gesetz einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass Arbeitnehmer „ihre beruflichen Chancen und ihre Verdienstmöglichkeiten verbessern“. Das Gesetz passierte zwar das Repräsentantenhaus, ist aber im Senat am Widerstand des Demokraten Joe Manchin gescheitert. Auf der Ebene einzelner Ministerien sind nun zwar mehrere Programme in Vorbereitung, die sich vom Umfang her aber kaum eignen würden, die Lücke zwischen offenen Stellen und Arbeitssuchenden zu schließen.