Geldpolitik

Bank of England unterschätzt Inflationsrisiko

Britische Notenbanker versuchen, steigende Verbraucherpreise mit vorübergehenden Angebotsengpässen zu erklären, die schon bald der Vergangenheit angehören werden. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Bank of England unterschätzt Inflationsrisiko

Von Andreas Hippin, London

In Großbritannien haben offenbar selbst altgediente Notenbanker wie Ben Broadbent Zweifel an ihrer Sichtweise bekommen, dass der Anstieg der Teuerungsrate lediglich vorübergehender Natur sei. Vielleicht haben sie in letzter Zeit Angebote von Handwerkern für einen neuen Wintergarten eingeholt. Oder sie waren erstmals seit Aufhebung der Corona-Restriktionen wieder beim Frisör. Man werde die Daten vom Arbeitsmarkt sehr genau ver­folgen, versprach der für Geldpolitik verantwortliche stellvertretende Gouverneur Broadbent unlängst. Zuvor hatte er den Zuhörern seiner Rede nicht so recht zu erklären vermocht, warum die Zentralbankökonomen mit ihren Schätzungen derart danebengelegen hatten, dass sie die Prognose für den im weiteren Jahresverlauf zu erwartenden Preisauftrieb von 2,5% auf 4% erhöhen mussten.

Die Container-Frachtpreise haben sich in den vergangenen Monaten vervielfacht. Die Gebrauchtwagenpreise sind Cap HPI zufolge den fünften Monat in Folge gestiegen (seit April um 16,6%), weil die weltweite Halbleiterknappheit die Wartezeiten bei Neuwagen-Bestellungen stark verlängert hat. Rohstoffe verteuerten sich in freudiger Erwartung einer Erholung der Weltwirtschaft. Bank-of-England-Gouverneur Andrew Bailey verwies auf „Flaschenhalsprobleme“ und tröstete, dass die Inflation auch unter dem erwarteten Wert liegen könnte, sollten sich die von der Pandemie verursachten Produktions- und Angebotsengpässe schneller auflösen als gedacht. „Eines der Risiken ist, dass sich die Flaschenhälse auf der Angebotsseite öffnen und eine ziemliche Angebotswelle auf den Markt drängt“, sagte Bailey vor Unternehmensvertretern. Er folgt damit der von Notenbankern vieler Länder vertretenen Linie, dass es sich lediglich um vorübergehende, vereinzelte oder auf bestimmte Segmente beschränkte Preisanstiege handele, die mit der Wiedereröffnung der Wirtschaft nach der Pandemie zu tun haben und bald revidiert werden dürften.

Die Realität fühlt sich anders an. Der Ölpreis steigt, die Halbleiterknappheit hält an und offene Stellen lassen sich nicht besetzen. Die großen Einzelhändler sind dazu übergegangen, Lkw-Fahrern zwischen 1000 (Tesco) und 2000 Pfund (Marks & Spencer) Begrüßungsgeld zu zahlen, weil sich sonst keine finden lassen. Das Traditionsunternehmen John Lewis ging noch einen Schritt weiter und erhöhte die Löhne seiner rund 900 Fahrer um bis zu 5000 Pfund bzw. 2 Pfund die Stunde. Die britische Regierung hat den Mitarbeitern des öffentlichen Gesundheitswesens NHS 3% mehr Lohn geboten, Gewerkschafter und linke Aktivisten fordern dagegen 15%. Im Gastgewerbe werden dem Online-Stellenportal Indeed Flex zufolge für Wochenendschichten im Schnitt 9% mehr gezahlt als im Jahr vor der Pandemie. In manchen Gegenden wie Greater Manchester seien es knapp 14% mehr.

Nach der Weltfinanzkrise 2008/2009 waren Einzelhandel und Gastgewerbe die Auffangbecken für Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten. Während der Pandemie hat die Regierung mit ihren Lohnsubventionierungsmaßnahmen jedoch dafür gesorgt, dass viele Jobs erhalten geblieben sind, die es vermutlich nur noch auf dem Papier gibt. Die Daten vom Arbeitsmarkt wurden dadurch extrem verzerrt.

Die Bank of England hat den Markt bereits auf eine längere Phase erhöhter Inflation eingestimmt und will die Notenpresse nicht vorzeitig anhalten, wie von ihrem ehemaligen Chefvolkswirt Andy Haldane, dem Geldpolitiker Michael Saunders und Boris Johnsons ehemaligem Wirtschaftsberater Roger Bootle gefordert. In jedem Fall scheint sich das laufende Quantitative Easing (QE) ganz wesentlich von den nach der Finanzkrise ergriffenen geldpolitischen Notstandsmaßnahmen zu unterscheiden. Damals verließ das neu geschaffene Geld das Bankensystem nicht. Heute wird es in Form von Kurzarbeitergeld und anderen Corona-Hilfen unter die Leute gebracht. Die dadurch finanzierte Nachfrage dürfte die Preise weiter nach oben drücken.

Überschüssiges Geld

Inflation lässt sich als Top-down-Prozess beschreiben. Daran erinnerte jetzt Invesco-Chefvolkswirt John Greenwood. Sie wird durch überschüssiges Geld ausgelöst, das individuelle Preise in einer willkürlichen, bisweilen chaotischen Reihenfolge nach oben treibt, je nachdem, welche Waren oder Dienstleistungen gerade knapp sind. Am Ende werden dadurch jedoch alle Preise nach oben gedrückt. Auch in Großbritannien erwartet kaum ein Experte eine Hyperinflation. Selbst der auf Kapitalerhalt bedachte Vermögensverwalter Ruffer wagt nicht, einen von nun an steten Anstieg der Teuerungsrate vorherzusagen. Doch auch wenn einzelne Preise wieder zurückgehen sollten, endet wohl die Zeit, in der man sich um den Preisauftrieb keine großen Sorgen machen musste.

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