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Berliner Beißhemmung

Während Lokführer und Bauern die öffentliche Ordnung aus den Angeln heben, schaut die Bundesregierung einfach zu. Ein Streikgesetz zum Schutz der kritischen Infrastruktur ist überfällig.

Berliner Beißhemmung

Kommentar

Berliner Beißhemmung

lz Frankfurt
Von Stephan Lorz

„So kann das nicht weitergehen“, sagt Verkehrsminister Volker Wissing und kritisiert den erneuten Streik der Lokführer als „verantwortungslos“. Verantwortungslos aber ist auch das Verhalten der Bundesregierung. Sie lässt es seit Wochen zu, dass Bauern Verkehrsknotenpunkte lahmlegen, toleriert in vielfacher Hinsicht ihre Gewaltakte gegen die öffentliche Ordnung und schaut tatenlos zu, wie eine Mini-Gewerkschaft die ganze deutsche Wirtschaft für ihre Zwecke in Geiselhaft nimmt. Dies verschlimmert die ohnehin desaströse konjunkturelle Lage noch weiter. Die Aggressivität der GDL ist wohl weniger tarifpolitisch begründet, sondern lässt sich aus ihrem Machtkampf gegen die größere EVG erklären. Die GDL möchte diese ausstechen und in mehr Betriebsteilen präsent sein, als es das Tarifeinheitsgesetz vorsieht. Der unbändige Machtwille wird durch die parallele Gründung eines Lokführer-Leihunternehmens noch unterstrichen.

Tarifautonomie sakrosankt

Die Beißhemmung der Politik ist darauf zurückzuführen, dass sie auf der einen Seite das Demonstrationsrecht und auf der anderen Seite die Tarifautonomie für sakrosankt hält. Akteure, die sich darauf berufen, genießen nahezu grenzenlose Freiheitsrechte. Die Frage, wo die Grenzen dieser Rechte sind, muss nun wieder einmal die Justiz entscheiden, die von der Bahn angerufen wurde. Das wäre nicht nötig und die Grenzen wären von vornherein gezogen, wenn es ein Streikgesetz gäbe, das die „kritische Infrastruktur“ definiert, schützt und ein Mindestmaß an Angebot aufrechterhält. Andere Länder haben das längst vorgemacht. Auch die Tarifautonomie oder das Demonstrationsrecht müssen schließlich die anderen Grundrechte respektieren, sind dem Gemeinwohl unterworfen und müssen die öffentliche Ordnung wahren.

Ideologie statt Realpolitik

Die Zurückhaltung der Bundesregierung liegt wohl nicht nur in der Angst vor der Gewerkschaftsmacht begründet. Vielmehr ist es eine symptomatische Haltung, die sich durch alle Politikbereiche durchzieht: Lieblingsprojekte werden unerbittlich umgesetzt gegen jeden Widerstand wie bei der Cannabis-Liberalisierung. Auch bei der Klimawende zieht man durch, was einmal vereinbart wurde (Atom- und Kohleausstieg), neuen Erkenntnissen etwa zur Stabilität der Stromnetze zum Trotz. Erst unlängst hat der Bundesrechnungshof der Koalition deshalb große Vorwürfe gemacht. Die neue Haltelinie bei der Rente und die Erhöhung des Bürgergelds wurden rigoros abgehakt, obwohl diese Ungerechtigkeiten auf allen Ebenen produzieren. Ideologie statt Realpolitik.

Die deutsche Wirtschaft würde sich freuen, wenn sich die Ampel mit gleicher Verve um die Konjunktur und die strukturellen Probleme (Steuersystem, Bürokratie, Standort) kümmern würde. Aber in ihrem Fall kehrt die Regierungskoalition den Spieß einfach um, kritisiert vielmehr die Weinerlichkeit und Klagen der Verbands- und Unternehmensvertreter. Als ob mit etwas mehr Zuversicht alle wirtschaftlichen Probleme aus der Welt wären!

Standort-Desaster

Aber wenn die Bundesregierung nicht reagiert, reagieren eben die Unternehmen und stimmen mit den Füßen ab: Viele verlagern bereits Produktion ins Ausland und planen keine Investitionen mehr hierzulande. Ein ähnliches Verhalten ist von der jüngeren Generation zu erwarten: Sie wird nichts unversucht lassen, um sich schleichend aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu verabschieden. Ein Standort-Desaster mit Ansage, und Kanzler Olaf Scholz schaut dem zu. Ist es verwerflich, ihn an seinen Amtseid zu erinnern?