Interview zur Bürokratie in DeutschlandLutz Goebel

„Das größte Problem ist die Praxisferne des Bundes“

Der Vorsitzende des Normenkontrollrats kritisiert die Praxisferne der Ministerien beim Entwurf von Gesetzen. Praktiker und Betroffene seien ohne Mitwirkungschancen. Die Entschlackung der Regulierung halte mit dem Bürokratieaufbau nicht Schritt.

„Das größte Problem ist die Praxisferne des Bundes“

Im Interview: Lutz Goebel

„Das größte Problem ist die Praxisferne des Bundes“

Der Vorsitzende des Normenkontrollrats kritisiert Ministerien beim Entwurf von Gesetzen – Praktiker ohne reale Mitwirkungschancen

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Die Bundesregierung will in der laufenden Legislaturperiode die Bürokratie abbauen und hat das bei der Vorstellung der Haushaltseckpunkte erneut bekräftigt. Aber der Vorsitzende des Normenkontrollrats, Lutz Goebel, hat Zweifel, dass ihr das gelingt. 2023 hatten die Bürokratiekosten einen Rekordstand erreicht. Und trotz Entlastungsgesetzen dürfte es auch 2024 eher zu keiner Trendumkehr kommen, erwartet er.

Herr Goebel, es heißt, die Bundesregierung schickt sich an, nun doch die Bürokratie zurückdrängen zu wollen über das jüngste Bürokratieentlastungsgesetz hinaus. Glauben Sie daran, dass es ein großer Wurf wird? Oder haben Sie die Hoffnung in Anbetracht der jüngeren Vergangenheit längst aufgegeben?

Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Bürokratieabbau ist eine Kärrnerarbeit und erfordert Durchhaltevermögen. Und es gibt jüngst auch Erfolge. Neben dem aktuellen Entlastungspaket der Bundesregierung ist da zum Beispiel der Pakt zwischen Bund und Ländern zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Der wurde im November 2023 geschlossen und wird jetzt Schritt für Schritt umgesetzt.

Bürokratie verlangsamt die Verwaltungsprozesse, weshalb Investitionen oft lieber im Ausland getätigt werden.

Lutz Goebel

Wie groß ist die Bürokratielast in Deutschland? Seit dem jüngsten Bericht des Normenkontrollrats sind ja weitere Belastungen hinzugekommen.

Der sogenannte Erfüllungsaufwand, der für Bürger, Unternehmen und Behörden jeweils für die Einhaltung und Umsetzung neuer Gesetze entsteht, ist unterm Strich im Jahr 2023 auf ein Rekordniveau gestiegen. Das jüngste Entlastungspaket wird diese Bilanz teilweise korrigieren. Ich habe die Hoffnung, dass damit der Anstieg im Jahr 2024 abgebremst wird. Ob es der Bundesregierung gelingt, auch mit weiteren Initiativen jetzt eine Trendumkehr einzuleiten, muss sich erst noch zeigen.

Kann man beziffern oder abschätzen, wie viel Wachstum, Arbeitsplätze oder Innovationen durch zu viel Bürokratie in Deutschland verloren gehen?

Nach verschiedenen Studien müssen Unternehmen je nach Branche und Größe rund 3% ihres Umsatzes für Bürokratiepflichten aufwenden, teilweise sogar noch mehr. Das ist ein beträchtlicher Faktor, der Spielräume für Innovationen begrenzt. Es gibt daneben auch die psychologischen Folgen überbordender Bürokratie. Manche Unternehmerinnen und Unternehmer beklagen, kaum zu ihrer eigentlichen Arbeit zu kommen, weil sie sich ständig mit Dokumentationspflichten herumschlagen müssen. Und Bürokratie verlangsamt auch die Prozesse aufseiten der Verwaltung. Aus diesen Gründen werden Investitionen oft lieber im Ausland getätigt.

Gerade in der Erfüllung der Dokumentationspflichten für die Klimapolitik sind die Klagen der Unternehmer besonders groß. Das Energieeffizienzgesetz gilt etwa als Ausbund bürokratischer Hybris. Sehen Sie das auch so?

Deutschland muss in Brüssel viel energischer auf bürokratiearmen Vorschriften bestehen.

Lutz Goebel

Das Energieeffizienzgesetz beruht wie eine ganze Reihe anderer Regelungen in diesem Bereich auf der Umsetzung von EU-Richtlinien. Leider ist die Kritik an belastenden und aufwendigen Vorschriften hier besonders kennzeichnend. Auch der NKR hatte praxistauglichere Regelungen im Gesetzgebungsverfahren für das Energieeffizienzgesetz angemahnt, z.B. zur Abwärmenutzung aus Rechenzentren. Wenn EU-Richtlinien erst einmal erlassen sind, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Dann müssen sie umgesetzt werden. Deutschland muss deshalb schon vorher bei den Verhandlungen in Brüssel viel energischer auf bürokratiearmen Vorschriften bestehen. Das geht aber nur, wenn die Bundesministerien sich intensiver mit den Folgen beschäftigen und die Bundesregierung geeint auftritt.

Wo müsste die Bundesregierung konkret ansetzen, um den Unternehmern tatsächlich mehr Freiraum zu verschaffen?

Eine Stellschraube ist der konkrete Bürokratieabbau. Überflüssige gesetzliche Anforderungen müssen gestrichen werden. Das Bürokratieentlastungsgesetz IV ist dafür aktuell ein wichtiges Projekt. Im Vorfeld hatte die Bundesregierung eine umfassende Umfrage über die Verbände durchgeführt, um Vorschläge zu sammeln. Gefordert wurde zum Beispiel, den erheblichen bürokratischen Aufwand in den Personalabteilungen anzugehen, der durch die Schriftform verursacht wird, die für Arbeitsverträge gesetzlich vorgeschrieben ist. Jetzt soll auch der digitale Arbeitsvertrag in Textform ausreichen. Es gibt noch viele weitere Vorschläge der betroffenen Unternehmen und ihrer Verbände. Die müssen ernst genommen und berücksichtigt werden. Zum anderen sollte die Bundesregierung die Bemühungen verstärken, neue Gesetze praxis- und digitaltauglich auszugestalten. Eine Regulierung, die Unternehmen überfordert, weil sie überflüssige Papierberge, komplexe Antragsbedingen und überlange Wartedauern verursacht, können wir uns nicht mehr leisten.

Die Beteiligung von Verbänden und Stakeholdern geschieht häufig nur noch pro forma und viel zu kurzfristig.

Lutz Goebel

Woran hapert es in Deutschland grundsätzlich bei der Vorgehensweise der Politik und der Umsetzung von EU-Vorgaben und der Konkretisierung von Gesetzen? Zu viel Einzelfallgerechtigkeit? Zu furchtsam vor juristischen Folgen, die detailreich abgesichert werden müssen?

Das größte Problem ist die Praxisferne des Bundes, wenn er reguliert, und die Hektik, mit der er das in den letzten Jahren zunehmend tut. Es sollte darum gehen, zur Zielerreichung möglichst aufwandsarme Wege zu wählen. Das erreicht man nur, wenn man die Gesetze handwerklich sauber vorbereitet. Das beginnt damit, dass die Ministerien frühzeitig die Betroffenen sowie Expertinnen und Experten einbeziehen müssten. Und zwar bereits, bevor sie den Gesetzentwurf schreiben.

Aber das wird doch getan. Es gibt Anhörungen vor einem Gesetzentwurf. Es wird im Bundestag darüber beraten und externer Rat eingeholt ...

Man muss sich von der Annahme lösen, dass die Gesetze im Parlament geschrieben werden. Die handwerkliche Vorbereitung erfolgt durch die Bundesministerien. Das ist auch richtig so, denn dort sitzt der fachliche Sachverstand. Dort müssen auch die Verbände und Stakeholder beteiligt werden. Leider geschieht dies inzwischen aber häufig nur noch pro forma und viel zu kurzfristig. Besser wäre es, sehr frühzeitig, also bei der Analyse des politischen Auftrags oder des zu lösenden Problems mit Betroffenen und Vollzugsexperten zu sprechen, Wirkzusammenhänge und Prozesse zu visualisieren, gedankliche Prototypen in Gesetzgebungslaboren zu verproben und erst ganz am Ende den Rechtstext zu erstellen. Heute bekommen die Betroffenen eine Woche Zeit, um 100 Seiten Gesetzentwurf zu kommentieren – obwohl dann eigentlich nicht mehr viel verändert werden kann.

Wenn wir auf aktuelle Projekte und Innovationen blicken: die Klimatransformation und die Modernisierung der Infrastruktur. Was müsste man tun, um diese Projekte schneller nach vorne zu bringen?

Ich glaube, dass alle politisch Verantwortlichen inzwischen erkannt haben, dass wir in Deutschland ein echtes Problem haben werden, wenn wir bei den großen Infrastrukturvorhaben nicht schneller vorankommen. Ob Energie, Verkehr oder Industrie: Wenn Genehmigungsverfahren zu lange in den Behörden hängen, wird uns die Modernisierung nicht rechtzeitig gelingen.

Können Sie das etwas konkreter fassen?

Der Pakt zwischen Bund und Ländern enthält viele gesetzliche Maßnahmen, die eine Beschleunigung bringen werden. Einige gehen übrigens auch auf Vorschläge des NKR zurück, wie die Einführung von Stichtagsregelungen und Bagatellschwellen, die Harmonisierung von Landesbauordnungen oder einheitliche Standards für Natur- und Artenschutz. Ein weiterer Schlüssel ist die Digitalisierung der Verfahren. Da ist noch viel zu tun, und das werden wir eng begleiten.

Wie groß sind Ihre Sorgen, wenn es um den Einsatz der künstlichen Intelligenz (KI) geht? Wird die deutsche Umsetzung des europäischen AI Act diese bahnbrechende Technologie erwürgen?

Bei der KI-Verordnung der EU handelt es sich weltweit um die erste derartig umfassende Regulierung von KI und ihrer Anwendungsfälle. Da es sich um eine hochdynamische Technologie handelt, wird sich auch das Rechtsgebiet noch stark entwickeln müssen. Ob die jetzt gefundenen Regeln gewollte Entwicklungen zu sehr ausbremsen, vermag ich nicht einzuschätzen. Sollten sich die Regeln nicht bewähren, hoffe ich auf zügige Anpassung. Ich habe aber Zweifel, ob die derzeitigen Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene dafür geeignet sind. In solchen Fällen sollten wir stärker auf Reallabore setzen. Die Idee ist, einen breiteren Rahmen vorzugeben und erst dann enger zu regulieren, wenn man aus der Praxis ableiten kann, welche Regeln wirklich gebraucht werden.

Das Interview führte Stephan Lorz.

Das Interview führte Stephan Lorz.

Mehr zum Thema:

Bürokratie schlimmer als Personalmangel

Deutschlands Standortsklerose

Die sieben Todsünden der Ampel

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.