Geldpolitik

Das Risiko zu hoher Leitzinsen

Die Notenbanken Fed und EZB sollten ihre Zinsen nicht weiter anheben, schreibt Volkswirt Thorsten Polleit in einem Gastbeitrag für die Börsen-Zeitung. Ansonsten drohe ein beunruhigendes Szenario.

Das Risiko zu hoher Leitzinsen

Die großen Zentralbanken der Welt, die US-Zentralbank (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB), wollen die Leitzinsen noch weiter anheben, um die Hochinflation in die Knie zu zwingen. Fed-Chef Jerome Powell spricht von der Notwendigkeit zusätzlicher Zinserhöhungen, und auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde will die Kreditkosten weiter verteuern – und zwar über den bereits angekündigten Zinsschritt im März von 0,50 Prozentpunkten hinaus.

Dass steigende Notenbankzinsen ein Mittel gegen Hochinflation sind, klingt zunächst einmal überzeugend. Doch die Sache ist komplizierter, als es klingt. Denn der Zusammenhang zwischen Notenbankzins und Güterpreisinflation ist in der Praxis nicht direkt, sondern vielmehr indirekt, und die genaue Wirkung von Zinsveränderungen auf die Höhe der Inflation ist nicht bekannt. Theoretisch kann man an verschiedene Transmissionswege denken.

Hebt die Zentralbank den Leitzins an, verteuert sich die Refinanzierung der Geschäftsbanken. Sie stellen ihren Kunden dann erhöhte Sollzinsen in Rechnung, und das wiederum dämpft die Kreditnachfrage. Werden weniger Darlehen vergeben, gelangt auch weniger neues Geld in Umlauf, und das wiederum wirkt steigenden Güterpreisen entgegen.

Oder: Steigende Zinsen verringern Aktienkurse und Häuserpreise. Das senkt das Vermögen der Marktakteure. Ihre Güternachfrage sinkt, und das dämpft den Preisanstieg im Gütermarkt.

Oder: Der Wechselkurs der heimischen Währung wertet auf, wenn die Zentralbank den Zins anhebt. Die Exportwirtschaft erlahmt, Importgüter verbilligen sich, und der Auftrieb der Güterpreise wird dadurch gebremst.

Wo liegt der „richtige Zins“?

Doch wo genau muss der „richtige Zins“, der die Inflation maßvoll hält, liegen? Wie weit müssen also die Leitzinsen der Zentralbanken dies- und jenseits des Atlantiks noch ansteigen, um die Inflation in absehbarer Zeit wieder auf die angestrebte Zwei-Prozentmarke zu senken? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten.

Die geldpolitische Theorie stellt zwar „Faustformeln“ bereit – beispielhaft sei hier die „Taylor-Regel“ genannt. Um jedoch diese Formel mit Leben zu füllen, bedarf es der Schätzung eines „gleichgewichtigen Leitzinses“ und auch des potenziellen Wachstums der Volkswirtschaft. Beides ist jedoch mit einer sehr großen Unsicherheit behaftet und kann zu fehlerhaften Politikempfehlungen führen.

Zudem ist zu bedenken, dass es erfahrungsgemäß Zeitverzögerungen zwischen zinspolitischen Maßnahmen und der Güterpreisinflation gibt. Der geldpolitisch gewünschte Effekt einer Zinserhöhung stellt sich in der Regel erst mit einer zeitlichen Verzögerung ein, die vorab auch meist nicht genau bekannt ist. Um diesem Problem Herr zu werden, wird daher üblicherweise der Einsatz eines geldpolitischen „Zwischenziels“ empfohlen.

Ein klassisches Zwischenziel ist die Geldmengenausweitung – eine Idee, die dem Diktum des US-amerikanischen Ökonomen Milton Friedman (1912 – 2006) folgt: „Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen.“ Eine ökonomisch plausibel klingende Schlussfolgerung: Steigt die Geldmenge in den Händen der Marktakteure, und bleibt ihre Geldnachfrage tendenziell unverändert, werden früher oder später auch die Güterpreise in die Höhe klettern. Ein Blick auf die jüngste Datenlage scheint diese These zu unterstreichen.

Von Ende 2019 bis Anfang 2023 hat die US-Notenbank Fed die Geldmenge M2 um etwa 40% erhöht, die Europäische Zentralbank die Geldmenge M3 in diesem Zeitraum um 25%. Weil das Güterangebot damit nicht Schritt gehalten hat, hat sich ein gewaltiger Geldmengenüberhang aufgebaut. Dieser triff nun auf ebenfalls gewaltige Kostenschubeffekte – vor allem ausgelöst durch die Lockdowns wegen der Corona-Pandemie sowie durch die politisch induzierte Energieverteuerung – und treibt so die Güterpreisinflation sehr stark in die Höhe.

Durch die erhöhten Güterpreise und auch das mittlerweile wieder gestiegene Güterangebot hat sich der Geldmengenüberhang wieder etwas zurückgebildet.

Hoher Geldmengenüberhang

In den Vereinigten Staaten beträgt der Geldmengenüberhang schätzungsweise noch etwa 13%. Zeigt er seine inflationäre Wirkung über, sagen wir, die kommenden zwei Jahre, so würde das einen Preisauftrieb von ungefähr 6,25% pro Jahr bedeuten. Im Euroraum beträgt der Geldmengenüberhang etwa 10%, und entsprechend ist auch hier mit anhaltend erhöhter Güterpreisinflation zu rechnen.

Der nach wie vor beträchtliche Inflationsdruck trifft allerdings jetzt auf Gegenkräfte. Mittlerweile schrumpft die US-Geldmenge, sie ging im Dezember 2022 um 1,4% gegenüber dem Vorjahr zurück. Und das bedeutet: Die reale Geldmenge, also die monetäre Kaufkraft, über die Konsumenten und Produzenten verfügen, nimmt rapide ab bei anhaltend hoher Inflation. Das wiederum wirkt bremsend auf die Konjunktur. Und da die reale Geldmenge derzeit sogar so stark abnimmt wie nie zuvor, sind sogar Sorgen vor einer Rezession nicht von der Hand zu weisen. Im Euroraum sieht es ähnlich aus.

Der Blick auf die Entwicklungen der Geldmengen legt folglich nahe, dass die Leitzinsen dies- und jenseits des Atlantiks eigentlich gar nicht weiter angehoben werden müssten. Die inflationäre Wirkung, die aus den Geldmengenüberhängen erwächst, lässt sich ohnehin nicht mehr ungeschehen machen. Vielmehr ist zu befürchten, dass weitere Zinserhöhungen, die das Geldmengenwachstum zusätzlich reduzieren, die Volkswirtschaften in eine Rezession schicken könnten.

Ein schwieriges Umfeld für die Geldpolitiker. Sie wollen vermutlich der Öffentlichkeit ihre Entschiedenheit demonstrieren, die aktuelle Hochinflation mit weiteren Zinssteigerungen zu verringern – vor allem auch um Vertrauensverluste und Zweitrundeffekte (Stichwort „Lohn-Preis-Spiralen“) zu verhindern. Aber damit steigt das Risiko, dass die Zentralbankräte die Zinsen letztlich zu stark anziehen und den Volkswirtschaften eine sehr harte Landung bescheren.

Enorme Staatsverschuldung

Ein durchaus beunruhigendes Szenario. Denn die weltweite Verschuldung der Volkswirtschaften ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen, finanziert in einem Umfeld extrem niedriger Zinsen. Das Institute for International Finance schätzt, dass sich die weltweite Verschuldung im dritten Quartal 2022 auf 290 Bill. US-Dollar belief, das waren etwa 343% der weltweiten Wirtschaftsleistung. Ende 2019 lag die Verschuldung noch bei 246 Bill. US-Dollar, dies entspricht einer Verschuldungsquote von 320%.

Eine neuerliche Wirtschaftskrise, ausgelöst durch zu hohe Leitzinsen der Zentralbanken, die die Schuldner ins Straucheln bringt, könnte also sehr unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Es ist daher zu hoffen, dass die Zentralbankräte das Risiko zu hoher Zinsen im Auge haben, und dass sie bei ihren Zinsentscheidungen die Entwicklung der Geldmengen gebührend berücksichtigen.

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