EU-Konjunkturprognose

Das Zittern vor dem russischen Gasliefer­stopp

Die EU-Kommission hat ihre Konjunkturprognose aufgrund des Krieges in der Ukraine deutlich nach unten revidiert und rechnet jetzt mit einer mehr als doppelt so hohen Inflation in diesem Jahr wie noch im Februar. Dabei sind noch längst nicht alle Risiken eingepreist.

Das Zittern vor dem russischen Gasliefer­stopp

ahe/ms Brüssel/Frankfurt

Die EU-Kommission hat erstmals die Folgen des Krieges in der Ukraine in ihre Konjunkturerwartungen eingepreist und ihre erst im Februar aufgestellten Prognosen deutlich nach unten korrigiert. Sowohl für die EU als auch für das Euro-Währungsgebiet wird nun ein reales Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) von 2,7% in diesem Jahr und 2,3% im kommenden Jahr erwartet. Im Februar war für die Eurozone für 2022 noch ein Wirtschaftswachstum von 4,0% und für 2023 von 2,7% in Aussicht gestellt worden.

EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni verwies zur Begründung insbesondere auf die kriegsbedingten Lieferkettenunterbrechungen, die Kostensteigerungen für zahlreiche Rohstoffe sowie auf die Störungen im Welthandel aufgrund der drastischen Corona-Maßnahmen der chinesischen Regierung.

Inflation auf Rekordhoch

Alle großen Euro-Länder müssen aktuell mit weniger Wachstum rechnen als noch vor Ausbruch des Krieges. Für Deutschland geht es gleich um 2 Prozentpunkte abwärts: In diesem Jahr wird es laut EU-Kommission nur noch ein Plus von 1,6% geben und 2023 dann 2,4%.

Vor allem machen die Kriegsfolgen auch die bisherigen Inflationserwartungen passé. Für das Euro-Währungsgebiet wird eine Inflation von 6,1% im Jahr 2022 erwartet, die dann im Jahr 2023 auf 2,7% sinken dürfte. Im Februar war von lediglich 3,5% für 2022 die Rede gewesen. Nun rechnet die EU-Kommission damit, dass die Inflation im Euroraum im laufenden zweiten Quartal mit 6,9% ihren Höchststand erreichen und danach allmählich wieder zurückgehen wird. Getrieben von den hohen Energiepreisen war im April mit 7,5% die bislang höchste Inflation in der Geschichte der Währungsunion verbucht worden.

Die Prognosen der EU-Kommission stehen auch deshalb stets stark im Fokus, weil sie häufig einen Fingerzeig für die Projektionen der Europäischen Zentralbank (EZB) geben. Die EZB legt im Juni neue Prognosen vor, denen dieses Mal ei­ne noch größere Bedeutung zu­kommt als sonst, weil die EZB auf deren Grundlage über eine schnellere Zinswende im Euroraum entscheiden wird. Zuletzt haben Euro-Hüter die Erwartung an eine erste Zinserhöhung bereits im Juli geschürt (siehe auch Bericht oben auf dieser Seite). Das weitere Tempo ist aber noch um­stritten. Aktuell preisen die Märkte drei bis vier Zinserhöhungen noch in diesem Jahr ein. Damit wäre die Zeit der Negativzinsen im Euroraum bis Jahresende beendet.

Gentiloni verwies darauf, dass auch die neue Prognose noch mit einer hohen Unsicherheit und mit Risiken behaftet sei, die in großem Maße von der Entwicklung des russischen Krieges abhingen. „Es sind durchaus noch andere Szenarien möglich, in denen das Wachstum möglicherweise geringer und die Inflation höher als in unseren heutigen Prognosen ausfallen.“

Am schlimmsten würde es demnach die europäische Wirtschaft treffen, sollte Russland seine Gaslieferungen in den Westen einstellen. In diesem Szenario würden die Wachstumsraten 2022 und 2023 etwa 2,5 beziehungsweise 1 Prozentpunkt unter dem prognostizierten Basisszenario liegen. Die Inflation würde 2022 sogar um 3 Prozentpunkte und 2023 um mehr als 1 Prozentpunkt über der Basisprojektion liegen.

Gefahr einer Stagflation

Sollten darüber hinaus die Zweitrundeneffekte infolge einer importierten Inflation und eines damit verbundenen Inflationsschocks stärker als erwartet ausfallen, könnte dies nach Einschätzung der Brüsseler Behörde die Gefahr einer Stagflation deutlich erhöhen. Ein starker Inflationsdruck berge zudem auch erhöhte Risiken für die Finanzierungsbedingungen. Welche Folgen die wirtschaftliche Abschottung der EU von Russland haben werde, sei darüber hinaus noch schwer einzuschätzen, hieß es.

Dabei zeigt die neue EU-Prognose an anderen Stellen auch durchaus Grund für Optimismus: So macht sich das Wiederanfahren von kontaktintensiven Dienstleistungen nach der Pandemie positiv bemerkbar, und die Lage am Arbeitsmarkt ist robust: Die Beschäftigung dürfte in diesem Jahr zulegen und die Arbeitslosenquote sinken. Eine geringere Anhäufung von Ersparnissen sowie fiskalpolitische Maßnahmen zum Ausgleich steigender Energiepreise stützen zudem den privaten Verbrauch. Die Kommission verwies zugleich auf die positiven Effekte des Wiederaufbaufonds.

Und auch bei der Verschuldung gibt es Lichtblicke: Die Haushaltsdefizite im Euroraum sinken 2022 im Schnitt auf 3,7 von zuvor 5,1% des BIP und liegen dann 2023 mit 2,5% wieder unter der 3-%-Marke. Und die Gesamtverschuldung der Euro-Länder sinkt von 2021 bis 2023 deutlich um 4,7 Prozentpunkte auf dann 92,7% des BIP.

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