Daniel Hartmann

„Der von den Notenbanken initiierte Zinsschock ist gewaltig“

Weltweit straffen die Notenbanken wegen der hohen Inflation ihre Geldpolitik wie seit Jahrzehnten nicht. Zugleich wächst aber die Wahrscheinlichkeit einer Rezession. Im Interview spricht Bantleon-Chefvolkswirt Daniel Hartmann über die Lage.

„Der von den Notenbanken initiierte Zinsschock ist gewaltig“

Mark Schrörs.

Herr Hartmann, Sie sehen den aktuellen Kurs der US-Notenbank Fed und der Europäischen Zentralbank (EZB) mit den stärksten Zinserhöhungen seit Jahrzehnten ex­trem kritisch. Warum?

Fed und EZB haben den aktuellen Inflationsschub zunächst unterschätzt und zu spät gegengesteuert. Inzwischen haben die Notenbanken eine 180-Grad-Wende vollzogen. Um ihre Reputation in der Inflationsbekämpfung zurückzugewinnen, kann es ihnen mit Leitzinserhöhungen gar nicht mehr schnell genug gehen. Dabei droht die Geldpolitik jetzt mit den restriktiven Impulsen über das Ziel hinauszuschießen und den ohnehin im Gang befindlichen konjunkturellen Abschwung unnötig zu verstärken. Auf den ersten Fehler folgt sozusagen der zweite Fehler.

Die Inflation in den USA liegt mit knapp 8% rund viermal so hoch wie das Fed-Inflationsziel von 2%, in der Eurozone ist die Teuerung mit 10,6% sogar mehr als fünfmal so hoch. Sind die starken Zins­­erhöhungen da nicht alternativlos?

Der erste Fehler der Notenbanken, der dazu geführt hat, dass der Geist der Inflation aus der Flasche ist, hat fraglos eine aggressive Reaktion der Notenbanken erzwungen. Es war richtig, dass die Notenbanken die Leitzinsen kräftig angehoben haben. Inzwischen gibt es aber klare Hinweise darauf, dass die Weltwirtschaft in die Rezession rutscht und die Inflation 2023 nach unten dreht. Das sollten die Notenbanken nicht ignorieren. Generell wäre es wünschenswert, wenn sich die Notenbanken wieder stärker an vorauslaufenden Indikatoren orientieren und in der Zinspolitik eine ruhigere Hand bewahren.

Die Sorge der Notenbanker gilt insbesondere einer Loslösung („Entankerung“) der Inflationserwartungen vom 2-Prozent-Ziel und einer gefährlichen Lohn-Preis-Spirale. Mancher Notenbanker wie etwa Bundesbankpräsident Joachim Nagel warnt sogar davor, dass sich eine neue „Inflationsdenke“ manifestieren könnte. Sind diese Sorgen übertrieben?

Nein, die Notenbanken sollten alles dafür tun, dass die Inflation möglichst schnell wieder auf 2% zurückfällt. Die Chancen, dass dies gelingt, stehen indes gar nicht so schlecht. Der Preis dafür ist allerdings eine globale Rezession, die wir 2023 erleben werden. In der Folge wird sich der nachfrageseitige Preisdruck erheblich abschwächen. Außerdem wird der Energiepreisschock abebben. Wir gehen daher davon aus, dass die Inflationsraten in der Eurozone und den USA Ende 2023 wieder in der Nähe von 2% liegen werden.

Aber mahnen nicht auch die Lehren der 1970er Jahre zu einem entschlossenen Gegensteuern der Zentralbanken? Damals haben Fed & Co. dem Inflationstreiben sehr lange zugeschaut beziehungsweise nicht entschieden und lange genug gegengehalten – bis sie dann zeitweise die Kon­trolle über die Inflationsentwicklung verloren haben. Ist so etwas aktuell ausgeschlossen?

Ein Unterschied zu den 1970er Jahren ist, dass die Notenbanken ein klares Inflationsziel von 2% haben. Sollte es entgegen unseren Erwartungen 2023 zu keiner globalen Rezession kommen und die Inflation hartnäckig hoch bleiben, werden die Notenbanken weiter an der Zinsschraube drehen – und das wäre dann auch richtig so. Vor allem die Fed hat deutlich gemacht, dass die Verankerung der langfristigen Inflationserwartungen bei 2% oberste Priorität hat und sie in dieser Hinsicht keine Kompromisse eingehen wird.

Was das Thema Rezession betrifft, gab es zuletzt einige Signale, die zumindest die Hoffnung geschürt haben, dass die Rezession eher milde ausfallen wird. Sie trauen dem aber nicht?

Wir rechnen fest mit einer tiefen Rezession. Der von den Notenbanken initiierte Zinsschock ist gewaltig. In den USA sind die Renditen etwa über alle Laufzeiten hinweg in kürzester Zeit um mehr als 4 Prozentpunkte gestiegen. Es dauert indes seine Zeit, bis diese restriktiven Impulse in allen Teilen der Wirtschaft ankommen. Am Immobilienmarkt sind die negativen Auswirkungen bereits jetzt sichtbar. Als Nächstes werden die Unternehmensinvestitionen unter Druck geraten. Die konjunkturelle Abwärtsspirale ist also bereits in Gang gesetzt und wird im Laufe des kommenden Jahres tiefe Spuren hinterlassen.

Ebenfalls aus den 1970er Jahren lässt sich die Lehre ziehen, dass eine Rezession nicht unbedingt immer dazu führt, dass die Inflation zurückgeht – oder zumindest nicht stark genug. Kann es jetzt nicht wieder ähnlich kommen und heißt das nicht, dass die Zentralbanken aggressiv sein müssen?

Wir gehen davon aus, dass es 2023 zu einer globalen Rezession kommt und damit starke disinflationäre Kräfte einhergehen. Außerdem wird der Energiepreisschock des laufenden Jahres aus der Statistik herausfallen. Die Inflation dürfte demnach weltweit deutlich fallen. Die Notenbanken sollten dann allerdings der Versuchung widerstehen, darauf erneut mit aggressiven Zinssenkungen zu reagieren. Ansonsten würden sie sehr schnell den nächsten Inflationsimpuls setzen.

Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund die fiskalpolitischen Maßnahmen gegen die Energiekrise, insbesondere in Deutschland und Europa? Aus dem EZB-Rat haben sich zuletzt Warnungen gemehrt, dass die Maßnahmen das Inflationsproblem noch verschärfen.

Die Fiskalpolitik begeht inzwischen die gleichen Fehler wie die Geldpolitik. Jeglicher konjunkturellen Bo­denwelle wird mit riesigen Fiskalpaketen begegnet. Dies sorgt aber da-für, dass die zyklischen Schwankungen eher größer als kleiner werden. Die aktuelle Fiskalpolitik schürt zweifellos die Inflation und ist daher kontraproduktiv. Die Politik denkt aber primär an die nächsten Wahlen und da kommen Hilfspakete gut an.

Wie schätzen Sie denn die längerfristige Inflationsentwicklung ein? Müssen wir uns auf dauerhaft höhere Inflationsraten einstellen, weil disinflationäre Kräfte wie die Globalisierung an Bedeutung verlieren? Und was heißt das perspektivisch für die Geldpolitik?

Man sollte ganz klar die strukturelle von der zyklischen Inflationsentwicklung trennen. Nächstes Jahr sehen wir eine gute Chance, dass sich die Inflation aufgrund des rezessiven Umfelds zurückbildet. Übergeordnet dürfte uns aber ein Umfeld höherer Inflationsraten erhalten bleiben. Strukturelle Faktoren wie der Fachkräftemangel, die Deglobalisierung und die Dekarbonisierung sorgen für anhaltenden Teuerungsdruck. Die Geldpolitik wird daher auf längere Sicht nicht umhinkommen, die Leitzinsen in den restriktiven Bereich, also auf mehr 3,0% anzuheben. Dies sollte aber in Wellen und nicht ruckartig erfolgen.

Die Fragen stellte