„Die EZB möchte wahrscheinlich den Fehler von 2011 nicht erneut begehen“
Herr Bini Smaghi, wenn Sie noch Mitglied des EZB-Direktoriums und des EZB-Rats wären, würden Sie am Donnerstag dafür stimmen, das zwischenzeitlich erhöhte Kauftempo beim Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP im vierten Quartal wieder zu drosseln? Und wären Sie für ein Ende von PEPP im März 2022?
Das wird von den Daten und der EZB-Prognose abhängen. Die EZB hat gerade eine neue Strategie verabschiedet, die ihre politischen Entscheidungen mit Prognosen über eine systematische Rückkehr der Inflation auf 2% verknüpft, und zwar weit vor dem Prognosehorizont von drei Jahren. Meiner Meinung nach deuten weder die jüngsten Daten noch die jüngsten Prognosen internationaler Institutionen darauf hin, dass die Inflation in der Eurozone in den kommenden Jahren kontinuierlich auf 2% steigen wird. Das bedeutet nicht, dass strukturelle Trends wie die demografische Entwicklung nicht längerfristig einen Aufwärtsdruck auf die Preise ausüben werden; aber das wird auch von anderen Entwicklungen wie der Sparquote abhängen. Solange die Europäer weiterhin mehr sparen als sie investieren, wird der Inflationsdruck moderat bleiben.
Die Euro-Wirtschaft hat sich aber über den Sommer kräftig erholt und könnte Ende 2021 das Vorkrisenniveau erreichen, und die Inflation ist im August auf 3,0% geschossen. Ist es da nicht angebracht, erste Schritte zur Normalisierung der Geldpolitik zu gehen?
Es hängt davon ab, ob der Anstieg der Inflation dauerhaft oder vorübergehend ist, was wiederum von der Stärke und Dauer des Aufschwungs abhängt, der wiederum von der Pandemie abhängt. Es gibt noch zu viele Unwägbarkeiten, als dass man sich auf eine Richtung festlegen könnte – was es schwierig macht, den Kurs zu ändern, ohne die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Im Jahr 2011 haben wir die Zinssätze zwei Mal in der Erwartung erhöht, dass die Inflation dauerhaft steigen würde, da sich die europäische Wirtschaft stark erholte. Diese Annahme erwies sich als falsch, und im Nachhinein betrachtet haben wir einen Fehler gemacht und mussten die Entscheidung einige Monate später rückgängig machen. Die EZB möchte wahrscheinlich vermeiden, denselben Fehler noch einmal zu begehen.
Die Gefahr, dass die Inflation nicht nur temporär erhöht bleibt, sehen Sie nicht – trotz des starken Preisdrucks auf den den Verbraucherpreisen vorgelagerten Stufen?
Die EZB sollte über die nötigen Analyseinstrumente verfügen, um die Gründe für den jüngsten Preisanstieg zu verstehen, insbesondere, ob er auf Angebotsengpässe oder einen Nachfrageüberschuss zurückzuführen ist. Die Anzeichen deuten darauf hin, dass ersteres der Fall ist. In diesem Fall würde eine straffere Geldpolitik nicht zur Eindämmung der Inflation beitragen und den Aufschwung gefährden. Prognosen können sich als falsch erweisen, wie wir in der Vergangenheit gesehen haben. Deshalb muss die EZB sicherstellen, dass sie über einen robusten analytischen Rahmen verfügt, der größere Prognosefehler vermeidet, die zu größeren politischen Fehlern führen können. Wenn ich mir die wahrscheinlichen politischen Fehler der vergangenen 15 Jahre ansehe, stelle ich fest, dass sie alle das gleiche Vorzeichen haben, nämlich, zu straff zu sein – angefangen bei den Zinserhöhungen von 2008 und 2011 oder der Verzögerung bei der Annahme von OMT und QE. Wir sollten uns fragen, warum.
In der EZB gibt es Diskussionen, bei einem möglichen Auslaufen von PEPP beim parallelen Anleihekaufprogramm APP aufzustocken. Drohen Anleihekäufe so nicht zum Dauerzustand zu werden?
Das PEPP bietet mehr Flexibilität bei den zu erwerbenden Vermögenswerten, so dass ein einfaches Ersetzen von PEPP durch das APP nicht wirklich hilfreich wäre. Das Problem des APP besteht darin, dass die Auswahl der zu erwerbenden Vermögenswerte auf einem zu starren Kriterium – dem Kapitalschlüssel der EZB – beruht, das keinen wirtschaftlichen Sinn hat, rein „politisch“ ist und sogar zu Verzerrungen führen kann. Im gegenwärtigen Umfeld macht es keinen Sinn, unverhältnismäßig viele Bundesanleihen zu kaufen, die sehr liquide sind und deren Verfügbarkeit auf den Märkten abnimmt, was zu noch niedrigeren langfristigen Zinsen führt und die deutschen Sparer benachteiligt. Die Kriterien sollten so geändert werden, dass sie der Marktgröße der verschiedenen Vermögenswerte besser entsprechen.
Der EZB-Rat hat jüngst seine Forward Guidance zu den Leitzinsen verschärft und die Null- und Negativzinsen für noch länger festgeschrieben. Bindet er sich damit nicht selbst zu stark die Hände?
Ich bin kein großer Anhänger von Forward Guidance. Letztendlich wollen die Märkte sehen, ob die Zentralbank bereit ist, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Taten zählen in der Regel mehr als Worte. Was passiert außerdem, wenn sich die makroökonomische Lage ändert? Dann muss die Politik geändert werden, auch wenn sie im Widerspruch zu den vorherigen Prognosen steht. Diese Politik ist nur dann glaubwürdig, wenn sie an Bedingungen geknüpft ist, was aber die Stärke der Verpflichtung verringert. Alles in allem sehe ich nicht die Gefahr, dass der EZB die Hände gebunden sind.
Wie beurteilen Sie die neue geldpolitische Strategie der EZB und insbesondere das leicht auf genau 2% angehobene Inflationsziel und die größere Toleranz für Inflationsraten oberhalb der 2%?
Die Symmetrie um 2% sorgt für mehr Klarheit und größere Transparenz. Ich glaube nicht, dass es viel Toleranz dafür geben wird, dass die Inflation lange Zeit viel höher als 2% liegt, anders als bei der Fed – und das zu Recht. Mehr Sorgen bereitet mir die Unklarheit des neuen Konzepts der Mittelfristigkeit, das über den Horizont, in dem die Geldpolitik wirksam ist, hinauszugehen scheint. Das kann zu Unsicherheit über die Absichten der EZB führen. Wie wird die EZB beispielsweise reagieren, wenn die Inflation über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren unter 2% – oder, um der Symmetrie willen, über 2% – liegen wird, was der Definition der mittleren Frist entspricht? Sollten wir erwarten, dass die EZB umgehend Maßnahmen ergreift, um wieder auf 2% zu kommen, und wie schnell?
Was halten Sie von der Kritik, dass die EZB vor allem darauf abzielt, die Euro-Staaten vor einer neuerlichen Schuldenkrise zu bewahren – dass sie also längst unter „fiskalischer Dominanz“ steht?
Die eigentliche Frage, die man sich auch in Deutschland stellen sollte, ist, ob die Zinssätze höher oder niedriger wären, wenn wir weniger Schulden in der Wirtschaft hätten, insbesondere im öffentlichen Sektor. Mit anderen Worten: Wären die Zinsen höher oder niedriger, wenn die Covid-Krise nicht durch einen Anstieg der Staatsausgaben bekämpft worden wäre? Wahrscheinlich wäre Letzteres der Fall, das heißt, die Zinssätze wären noch niedriger, da die riesigen Ersparnisse, die in der Krise angehäuft wurden, auf eine viel geringere Anzahl von Vermögenswerten treffen würden, in die sie investiert werden könnten. Dies wird wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren der Fall sein. Deshalb wäre meiner Meinung nach eine schnelle Rückkehr zum Schwarze-Null-Zwang in Deutschland sehr schädlich für die deutschen Sparer und Finanzinstitute.
Die Fragen stellte Mark Schrörs.